Mit einem Kugelschreiber hatte jemand unter dem Titel AUF DEM GIPFEL in die weißgekalkte Klowand in Großbuchstaben hellblau schön übereinander so aufgetürmt hineingeritzt, dass es einen typografischen Block ergab:
MÜDE BEINE
LAUTER STEINE
AUSSICHT KEINE
HEINRICH HEINE
Ein Ästhet, der Schreiber. Wie ich. Möglicherweise ein Architekt, der Blockschrift in meiner Erinnerung nach. Obwohl ich damals bis auf das KEINE kein Wort verstand, lernte ich den wohlklingenden und wohlgeformten deutschen Vierzeiler gleich auswendig. Und schrieb ihn absichtsvoll ab.
Aus einem listigen Missverständnis. Kugelschreiber waren damals, als ich in der gesamtböhmischen Einöde gefangengehalten worden war und so an die vierzehn ging, seltene, aus dem wundervollen Westen erst langsam einsickernde Schreibgeräte. Also nahm ich an, die Kloaufschrift sei von einem Westdeutschen geschrieben worden, die in Böhmen noch seltener auftauchten als die deutschen Kugelschreiber. Ich schrieb die blaue Mitteilung sorgfältig und in Großbuchstaben ab und bat dann unseren Klassenlehrer öffentlich, er möge es für uns ins Tschechische übersetzen.
Dass er Deutsch sprach, wussten wir, weil wir außerdem auch wussten, dass er ein mindestens halber Sudetendeutscher war, einer mit polnischem Familiennamen, was damals in Böhmen von Bedeutung war, hauptsächlich für einen derart Betroffenen. Er war aber der leiwandste unter unseren Lehrern. Wir mochten ihn sehr und er uns. Ich freute mich auf das lange Gesicht unseres in Verlegenheit geratenen Klassenlehrers: Denn ich dachte, dass, wie bei den tschechischen Wandmitteilung üblich, auch eine jede deutsche pornografisch sein müsste. Womöglich eine mit einer kryptischen Spitze gegen das öde kommunistische Regime.
Ich freute mich umsonst. Unser beliebter Klassenlehrer/Bergführer blickte kurz auf den von mir vorgelegten Zettel und war überhaupt nicht verlegen. Erfreut rezitierte er laut und feierlich die knappe Gipfelimpression des Heinrich Heine, ohne sie lesen zu müssen, auf Deutsch und gleich anschließend auf Tschechisch, das allerdings ungereimt. Er kannte die Aufschrift. Oder das Gedicht.
Das Ganze gefiel mir sehr. Die Reime und die Situation. Unser Tschechischlehrer und ein deutsches Gedicht auf dem Gipfel. 1603 Meter hoch, auf dem allerhöchsten Berg, den die Tschechen haben, mit einem herrlichen Blick weit ins Böhmische Paradies, so heißt die Gegend zwischen Prag und dem Riesengebirge tatsächlich, und noch viel weiter nach Polen, weil es bald sehr flach wird. Dort oben, auf dem Gipfel, war es momentan anders als in Heines Gedicht. Kein Nebel. Keine müden Beine. Und auch keine großen Steine, als wir, die Schüler der Grundschule in Tetschen/Bodenbach, einer Stadt an der Elbe, auf der Schneekoppe angelangt waren. Hinauf wurden wir mit dem Sessellift gebracht. Hier, auf dem verhältnismäßig kleinen, flachen Plateau, tummelten sich Massen von Touristen, hauptsächlich Polen, denen die Hälfte der Schneekoppe und vielleicht auch die Hälfte des Riesengebirges gehört.
Dazu etliche tschechische Schulklassen. Ob es damals, in den späten 1950er-Jahren, eine Pflicht war für Schüler und Schülerinnen in der letzten Klasse der achtstufigen allgemeinbildenden Grundschule, einen patriotischen Schulausflug zum höchsten tschechischen Gipfel zu machen - etwa so, wie die österreichischen Provinzkinder nach Wien verfrachtet werden? Oder waren es bloß selbstlose und leichtsinnige Handlungen von einigen vortrefflichen Pädagogen, mit den Banden völlig unbeherrschbarer Halbwüchsiger ins Gebirge zu fahren, wo trotz der, verglichen etwa mit der Hohen Tatra in der Slowakei, geringen Höhe oft recht raue Verhältnisse herrschen können? Das kann ich jetzt nicht mehr beurteilen.
Wir hatten Glück und erwischten einen der genau 70 Tage, in denen nach Beobachtungen der Meteorologen das Riesengebirge nebelfrei ist. Danach, in meiner böhmenhistorischen Zeit, wie ich die Jahre nenne, als ich noch in Böhmen leben musste, war ich noch zweimal für mehrere Tage im Riesengebirge. Beide Male: Aussicht keine, lauter Nebel, dicht, dass man ihn mit einem Messer hätte schneiden können, tagelang und Menschen in Massen.
Falls es dort oben je große Steine gab, was wohl anzunehmen ist, dann waren sie längst durch die Massen der Touristen, die die gebirgshafteste aller Berglandschaften in diesem Winkel Mitteleuropas heimsuchen, zu fast feinem Schotter und Sand zertrampelt worden. Mit ihren schweren Bergschuhen ist der Gipfel so flach heruntergetrampelt worden, dass die Schneekoppe jetzt in den meisten Wanderkarten um einen ganzen Meter kleiner angegeben wird als zur Zeit meiner Erstbesteigung. 1602 Meter.
Hoppla, habe ich zuerst gedacht, ein Druckfehler. Hoppla, hier noch ein weiterer, und da auch. Überall 1602. Nur noch der deutsche, 2005 erschienene Reiseführer "Das Riesengebirge entdecken" hält der alten, richtigen Höhe die Treue: "Das gewaltige Massiv der Schneekoppe/Snezka ist mit seiner 1603 Meter hohen Spitze der höchste Berg Mitteleuropas nördlich der Alpen, an die man sich hier oft erinnert fühlt". Und über den in Böhmen unvermeidlichen Dichterfürsten: "Schon Goethe bewunderte hier oben den Sonnenaufgang". Heine dürfte sich seine müden Beine wohl anderswo als im Riesengebirge geholt haben, denn er bleibt unerwähnt.
Riesige Steine lagen allerdings auf dem Weg von der Schneekoppe runter zur Elbbaude, die berühmt war in ganz Böhmen und auch in Polen und in Deutschland, vor allem in Ostdeutschland, und im westdeutschen Hamburg auch, weil die Baude unweit der Quelle errichtet wurde, wo die Elbe beginnt, der im halben Deutschland halbheilige Fluss. Auch die Elbbaude steht nicht mehr. 1965 brannte das alte, große Berghotel aus.
Wir liefen um die Wette über den rund zwei Kilometer langen, steilen und unebenen Weg hinunter, wer zuerst bei der Elbbaude sein würde. Drohend rief uns unserer Lehrer nach: Erster Preis der Vierer in Benehmen, zweiter Preis der Dreier, dritter der Zweier. Unser halsbrecherischer Wettlauf endete ohne jeglichen Beinbruch. Ich gewann.
Mein Klassenlehrer missverstand mich. Er hielt meine pubertäre Hinterhältigkeit für Bildungsdrang eines begabten Knaben. Ein paar Tage später, wieder in der Schule, brachte er mir ein Kunstbuch mit einer schwarz-weißen, dennoch recht guten Reproduktion eines Gemäldes, auf dem jene Berge, wohin wir den denkwürdigen Schulausflug gemacht hatten, abgebildet waren. Es hieß "Erinnerung an das Riesengebirge" und war von Caspar David Friedrich. Das Bild befände sich in Leningrad, in der Eremitage. Eine überaus imposante Berglandschaft. Die Schneekoppe sah darin wie der Mont Blanc aus. Riesig, weit und uneinnehmbar. Krkonose heißt auf deutsch Riesengebirge. Also riesige Berge. Krkonose und riesig! Bloß 1603 (ich bleibe dabei) Meter!
Obwohl es mir an unmittelbaren Bergvergleichserfahrungen mangelte, schien mir diese geografische Bezeichnung maßlos überspitzt. Da begann ich zu ahnen, dass die böhmische Neigung zu Übertreibungen deutscher Herkunft ist.
Keineswegs waren es die Berge, die mich wirklich beeindruckt hatten. Ich kann noch heute Winckelmann verstehen, der, wie er schrieb, die Vorhänge in der Kutsche, in der er auf seinem Weg nach Italien saß, zuziehen musste, als er über die Alpen fuhr. Weil er die Hässlichkeit der Berge nicht ertragen konnte. Es war die polnisch-tschechische Staatsgrenze, die den Gipfel der Schneekoppe und so gut wie den ganzen Hauptkamm des Riesengebirges aufteilte, die mich uferlos überraschte.
Es war ja keine Grenze. Ich wuchs an der Grenze zu Deutschland auf, die versperrt war durch hohe Stacheldrahtzäune und breite Schutzstreifen und bewacht wurde von schwerbewaffneten Grenzsoldaten. Hier aber, im Riesengebirge, tauchte plötzlich ein Weg auf, der einmal auf der polnischen Seite verlief, dann wieder auf der tschechischen, streckenweise ging die Grenze, erkennbar bloß an den kleinen, orthogonal zugehauenen und rot-weiß bemalten Grenzsteinen. Meine erste Reise ins Riesengebirge war daher auch meine erste, langersehnte Reise ins Ausland, denn tatsächlich so empfand ich die wenigen Schritte auf polnischem Staatsgebiet. Und das gleich oben auf dem Gipfel: eine Grenze und kein Stacheldraht, wenn das nicht wunderbar ist!
Ein Jahr später war ich wieder im Riesengebirge, auf der Schneekoppe. Diesmal ging es mir dort fast wie Heine: müde Beine, weil ich zu Fuß hinaufging, und auch Aussicht keine, wegen dichten Nebels. Das bekümmerte mich gar nicht. Ganz im Gegenteil. Ein Freund und ich hatten eine Straftat vor: illegales Eindringen in das polnische Staatsgebiet zwecks Besichtigung einer architektonischen Rarität. Wie waren voll vom Wikingerwahn erfasst und hatten von einer echten alten Wikingerkirche gehört, die sich im Städtchen Karpacz, das direkt unter der Schneekoppe gelegen ist, befinden sollte. Eine echte Wikinger-Stabkirche, gebaut auf die Art der Wikinger-Schiffe, in Norwegen zerlegt, hingebracht und dort wieder aufgebaut. Dorthin mussten wir.
Dorthin gingen wir. Allen, die uns entgegenkamen, riefen wir in perfektem Polnisch die fünf polnischen Wörter zu, die wir für den Weg nach Karpacz bei unserem Deutsch und Polnisch sprechenden Tschechischlehrer erfragt hatten: Dzien dobry! Psia pogoda dzsisiaj. Oder so ähnlich. Guten Tag. Hundswetter heute. Sollte uns dennoch jemand ansprechen, wollte wir nur "taktak" zustimmend offen erwidern. Ja, ja.
Denn der illegale Gang nach Polen galt als äußerst gefährlich. Noch immer ging in Böhmen die Fama aus der Nachkriegszeit um, alle Tschechen und Slowaken, die auch nur wenige Meter illegal aufs polnische Staatsgebiet vorgedrungen waren, würden nach Warschau deportiert, um dort als Bausklaven am Wiederaufbau der zerstörten Stadt zu arbeiten. Mindestens zwei Jahre lang. Alter egal. Auch Kinder.
In Karpacz kamen wir nie an. Kurz vor der Stadt wurden wir erwischt. Eine polnische Polizeistreife war mit unserer polnischen Aussprache nicht zufrieden.
So kenne ich diese wunderschöne, echte norwegische Wikinger-Stabkirche noch immer nur aus Abbildungen. Und zum Wiederaufbau des von Deutschen zerstörten Warschau trug ich auch nichts bei. Entweder war es nur ein Gerücht, oder die Wiederaufbauzeit war bereits vorbei. Die polnischen Grenzsoldaten brachten uns zurück an die tschechische Grenze. Sie glaubten unserer Beteuerung, wir hätten uns in dem dichten Nebel bloß verirrt. (Jan Tabor/DER STANDARD/RONDO/21.12.2007)