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Eine Reportage über den Grenz-Verkehr, die Arbeit einer Prostituierten in Wien und Kinderprostitution im Grenzgebiet.

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Angelika lebte einst in Südmähren. Aber eigentlich wissen wir gar nichts voneinander. Ich schaue etwas nervös auf die Uhr, noch zehn Minuten, tatsächlich ist sie pünktlich, öffnet die Tür ihres Wagens und ich steige ein. Wir sehen einander zu, wie wir einander die Hand reichen, aber dann müssen wir lachen. "Es freut mich", sagt sie, "mich nicht minder", das klingt irgendwie ungezwungen und beinahe feierlich. Wir fahren los, aber eigentlich fährt nur sie.

Angelika ist Prostituierte, wir unterhalten uns darüber, wie Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen auf der Straße landen - zum Anschaffen. Und das Wort "Straße" ist in Tschechien fast schon ein Synonym für die E55. Besagte Hauptverkehrsader zwischen Dresden und Prag gilt seit den Neunzigerjahren als der längste Straßenstrich Europas; allerdings, nahezu alle Europastraßen, die Richtung "Westen" gehen (etwa auch die E48 und E49) sind mittlerweile Hochburgen der Prostitution.

Seit gut einem Jahrzehnt bringt das Wohlstandsgefälle (ganz besonders spürbar in den Grenzgebieten) zudem massiv Kinderprostitution mit sich - im deutsch-österreichisch-tschechischen Kontext hat sich ein regelrechter Markt entwickelt, der einen perfiden Mechanismus offenbart: Die Freier bevorzugen immer jüngere Kinder, um sich nicht mit Geschlechtskrankheiten anzustecken. Die Tätergruppe ist bekannt: deutschsprachige Männer in komfortabel ausgestatteten Mittelklassewagen. Die Entlohnung der Kinder: fünf bis zehn Euro und vielleicht eine Tafel Schokolade.

Angelika selbst verließ irgendwann ihre Heimat, um sich in Wien eine Existenz aufzubauen - das Metier wechseln, das konnte sie sich schlichtweg nicht leisten. Sie kam in den Neunzigerjahren. Freiwillig. Die Mädchen aus Brünn und Umgebung fuhren nach Wien, die aus Prag und so weiter nach Deutschland, das war immer schon so, seit sie denken kann.

Mich interessiert ihr Leben in Wien: "Wie war dein erster Arbeitstag? Wurde es hier besser?" Sie überlegt kurz. "Ich musste in einem Separee arbeiten, eine Russin kam und klärte mich auf, wie es hier in Österreich läuft. Es lief denkbar einfach: Man musste tun, was der Kunde verlangte (so war es überall). Am Ende der Nacht realisierte sie, dass sie für das Geld, das sie hier verdiente, in Tschechien ein Dreivierteljahr (zum Beispiel als Verkäuferin) hätte arbeiten müssen.

Ein Dreivierteljahr ist eine lange Zeit. Für Menschen ohne Geduld - und hierzu zählt sich Angelika - ist das fast schon lebenslänglich.

Am nächsten Tag kam einer, gleich nach dem Frühstück. Er wollte Frischfleisch und Verkehr ohne Gummi. "Ich hatte panische Angst, weil ich nicht wusste, wie ich reagieren soll." Dann begann er sie zu würgen, ihren Kopf nach hinten zu drehen. Todesangst. Nur zufällig hörte ein anders Mädchen, dass etwas nicht stimmte. Sie kam angerannt, stieß die Tür auf und zerrte den Mann von ihr weg. "Ich war drei Tage lang nicht arbeiten, aus Angst, hatte Würgemale am Hals. Eine Kehlkopfquetschung. Aber am vierten Tag ging ich wieder hin, die Gier, so viel Geld zu verdienen, hatte die Angst verdrängt. Die Gier gewinnt immer."

Sie erzählt mir, als ihr zum ersten Mal (damals noch in Tschechien) mit einem Freier der Gummi platzte. Sie hatte solche Angst bekommen, sich etwas geholt zu haben, dass sie panisch zu den anderen Mädchen lief. "Ich weinte, und sie haben gefragt, was denn los sei? Und ich sagte: Den Gummi hat's z'rissn'. Und sie haben gelacht und meinten: Na geh, Baby, das ist doch kein Grund zum Weinen." Und dann haben sie weitergelacht.

Ihrer Familie hatte Angelika stets erklärt, dass sie in einem Restaurant arbeitete - als Kellnerin. Bis sie die Mutter eines Tages zur Rede stellte, warum sie so viel schwarze Kleidung einkaufe: Miniröcke, Strapse, Netzstrümpfe und so weiter. "Irgendwann war es nicht mehr zu leugnen, ich gab alles zu, und Mutter erzählte es der Familie. Sie waren alle sehr böse. Und der Vater sprach zwei Jahre lang kein Wort mehr mit mir. Wenn ich zu Hause anrief, nahm er manchmal den Telefonhörer ab und rief: Mutter, komm, die Hure ist am Telefon."

Wenn Angelika heute in Wien inseriert, betont sie stets, woher sie stammt, dass sie Tschechin ist - wo doch tschechische Mädchen in der Branche als besonders hübsch gelten. Nur Deutsch muss man schon sprechen, die Kunden wollen schließlich auch reden. Angelika hat die Sprache tatsächlich gelernt - sie bat Stammgäste, ihr Hausaufgaben zu erteilen, die diese wiederum beim nächsten Besuch korrigierten. Und dazwischen lernte sie Vokabeln. "Ich habe Geld verdient und dabei Deutsch gelernt, nicht schlecht oder?"

Dann schaut sie mich länger an und sagt: "Ich habe zwei Gesichter. Wenn ich arbeiten gehe, drehe ich meinen Kopf einfach um, es macht klick, und ich bin jemand anderer." Zwei Leben. Ein Körper. Dazwischen Erinnerungen.

Einmal kam ein Freier, sie sah ihn an: "Bitte kannst Du dich duschen?", schickte ihn dreimal ins Bad, weil er so verdreckt war. Als das alles nichts nützte, wurde sie wütend: "Alter, du bist sechsunddreißig und weißt nicht, wie man sich ordentlich wäscht? Jetzt zieh die Vorhaut zurück, nimm etwas Seife und tue dich ordentlich waschen, Sau du! Er wusch sich natürlich nicht und ging lieber zu einer anderen. Angelika muss sich verabschieden, unsere Zeit ist um, sie muss arbeiten gehen. Geld verdienen. Vor was sie wirklich Angst hat? Sie lacht: "Spinnen, an die darf ich gar nicht denken! Weißt du, was mir gerade einfällt? Als Kind hatte ich oft Albträume, ich hatte Angst zu sterben, ohne diese Welt verstanden zu haben. Also wollte ich ein Heilmittel finden, damit alle Menschen ewig leben und nie mehr sterben müssen. Ich dachte, es sei das Paradies." Experten zufolge "verdienen" Prostituierte im Übrigen 200.000 Euro im Jahr - wenn sie jung sind und gut im Geschäft. Klarerweise sehen sie davon reichlich wenig, egal ob in Wien oder auf der E55. Nur die Kunden ähneln einander: Sie sprechen Deutsch und haben fast immer Familien. (Michael Stavaric, DER STANDARD - Printausgabe, 21. Dezember 2007)