Im heutigen Tschechien kannte man den 21. Dezember als Stalins Geburtstag. Nun verschwinden die Grenzen. Anlass für eine persönliche Erinnerung und eine historische Einschätzung.

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Wir sind wieder zusammen. Nach 1989, als die Grenze des Todes fiel, fällt nun die Grenze der Vorbehalte. Am 21. 12. bekommt Mitteleuropa seine Vielschichtigkeit zurück, die es vor 100 Jahren aufgegeben hat.

Oft denke ich an das Gefängnis in Prag. Nach drei Tagen im Keller durfte ich an die Sonne. Selbst wenn es nur um einen Käfig im Hof ging, es gab dort Licht, und ich fühlte mich besser. Zwei Meter mal fünf, zwölf Teile eines Kreises mit einem Hochsitz dazwischen - zum Lauern auf Menschenkaninchen. Ein geschichtsträchtiger Ort. Von den Nazis antitschechisch errichtet, wurde er auf antideutsch umfunktioniert, dann wieder für die Tschechen, die keinen Kommunismus mochten. Und letztendlich für die eigenen Genossen, die hier henkergerecht präpariert wurden - für Schauprozesse. Kein gutes Omen also für Neuankömmlinge wie wir, die Unterzeichner der Charta 77, die behauptet hatte, es gäbe keine Menschenkaninchen. Aus dem heutigen Putinien hat sich der damalige Staatschef angesagt, um mit seinen Günstlingen das Zehn-Jahr-Jubiläum seit dem Prager Einmarsch zu feiern.

In der Kristallnacht geboren, war ich vierzig und hatte bereits fünf Regime verspeist, die einen neuen Menschen versprochen hatten, durch Kaninchenzucht.

Koje wurde beliefert

Hoch über meinem Kopf flog ein schöner Falke, eine Maus in den Fängen, hinüber zum Schornstein, auf dem seine Kleinen piepten. Diese Kooperation der Raubtiere oben wie unten war bezeichnend. Meine Koje wurde ebenfalls beliefert. Man schob mir einen Jungen zu. So um die zwanzig, aber schon grau, mit zitternden Händen und erloschenen Augen.

Mein Ermittler erzählte mir vorher (warum eigentlich?) über einen Zwischenfall an der Grenze. Zwei Brüder wollten nach Westdeutschland, und weil es keine Pässe gab (oder nur die für gute Genossen) entschieden sie sich, einen Bus zu kapern. An der Schranke angehalten, ließen sie seine Insassen frei, unter der Bedingung, dass der Fahrer die beiden hinüberbringt. Ungebildet und nicht kriminell genug, hatten sie das immer noch volkseigene Niemandsland zwischen Ost und West vergessen.

Dort erwartete sie ein Kommando, das den Fahrer und den jüngeren der Brüder erschoss, um danach verkünden zu können, es sei aus Selbstverteidigung geschehen. Mein Stasi-Mann meinte ganz laut: "Dieser Bares" ist bereits tot.

"Gibt es Gott?"

So erfuhr ich seinen Namen und war überrascht, dass er den meinen kannte. "Sind Sie der G., der Schreiber, der Studierte?", fragte er. Ich nickte und dachte an die Stille Post des Hauses oder an die Psychospiele der Geheimpolizei. "Dann erklären Sie mir", flehte er, "ob es Gott gibt, ich meine nach dem Tod!".

Ich war überrascht, dass er mit einem Gott für das Irdische nicht rechnete und spürte mein eigenes Zittern. Und mit dem Blick zum Falkenhimmel hörte ich mich sagen: "Ja, gewiss, darauf kannst du dich verlassen".

Man hat uns abgeholt. Er wurde hingerichtet, ich wurde entlassen. Als ich von seinem Ende las, zitterte ich wieder und kam mir wie ein Lügner vor. Und fragte mich: Womit lockte ihn der Westen, von dem er kaum etwas wissen konnte? Womit lockte er mich und meine Freunde, die wir als Spinner oder Verräter galten? Machte uns die Freiheit mobil? Wir wollten sie, weil wir spürten, dass sie den Menschen zum Menschen macht.

Lockende Botschaft

Unsere Botschaft war eine gute und eine gefährliche. Sie lockte sowohl die Idealisten als auch die Jugend. Ihre kreative Kraft schuf in Europa die erste Ideenstruktur, die sich über das Nationale erhob. Und sie breitete sich aus. Sie kombinierte Mut mit Beharrlichkeit und brachte die Wende. In der damaligen Riege, unten im Gefängnis, saßen ein zukünftiger Bischof von Prag, ein zukünftiger Schauspieler des Burgtheaters, ein Prager Rabbiner und ein Schulminister und Botschafter für Wien.

Im entführten Bus befand sich die zukünftige Chefin der Atombehörde, die mir ein Vierteljahrhundert später erklärte, warum ein AKW in Temelín sicherer sei als das putinische Öl. Ich hörte ihr gerne zu. Vielleicht auch deswegen, weil wir beide an den 21. 12. als Stalins Geburtstag dachten und erst seit 1989 den Kopf freihatten für andere Zahlen. Wenn heute dieses Datum als Ende der Grenzen gefeiert wird, so ist es göttliche Ironie. Ein kleiner Trost, dass ich nicht ganz gelogen habe, als ich Bares beruhigen wollte. (Jirí Grusa, DER STANDARD, Printausgabe 21.12.2007)