Nikoletta, Michael und der Grenzbalken: Vielleicht ist ja mehr los, wenn er jetzt endgültig verschwindet.

Foto: Standard/Heribert Corn
Beim Fortgehen blieben Österreicher und Ungarn bisher lieber unter sich.

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Nickelsdorf/Hegyeshalom - Nikoletta friert. Sie zieht die Schultern hoch, vergräbt ihr Gesicht in ihrem Schal und hüpft ein wenig auf und ab. Standard-Fotograf Heribert Corn ist noch nicht ganz zufrieden mit dem Motiv "Nikoletta und Michael am Grenzbalken". Er prüft die Perspektiven und scheint den schneidenden Wind im österreichisch-ungarischen Grenzland gar nicht zu spüren. Michael wirft Nikoletta einen verschwörerischen Blick zu, verdreht die Augen und grinst. Sie lächelt zurück - mit 18 verständigt man sich auch ohne Worte über Erwachsene.

Das ist ein Glück, denn reden können die beiden kaum miteinander. Michael Moder, der Nickelsdorfer, hat sein Volksschul-Ungarisch fast vergessen - und an Nikoletta Rácz, der Hegyeshalomerin, scheint der Deutsch-Unterricht in ihrer Schule nahezu spurlos vorübergegangen zu sein. Die beiden sind gleich jung, 18 - und sie wohnen nicht einmal zwei Kilometer von einander entfernt. Getroffen haben sie einander trotzdem noch nie. "Es sind halt doch unterschiedliche Welten", sagt Michael weise.

der Standard scheucht die beiden ein paar hundert Meter weiter, wo mitten in der Pampa ein etwas pompöses Denkmal zum Fall des Eisernen Vorhangs errichtet wurde. "Hmmm", murmelt Nikoletta, "Ich kenn's eh", sagt Michael. Der Übersetzer deutet auf das weite, abgeerntete Feld, das sich vor dem Denkmal, in Richtung Westen - also Österreich - erstreckt: "Hier sind die Parkplätze zum NovaRock-Festival, sagt er. "Ah, NovaRock!" Nikolettas Miene hellt sich auf. Hier ist sie jedes Jahr - so wie Michael, natürlich. In die etwas steife Runde kommt Bewegung. Nikoletta zählt ihre Lieblingsbands auf: The Offspring, System of a Down ... Michael ist nur bedingt einverstanden, er steht auf Bewährtes: Led Zeppelin, Black Sabbath. Sie werfen mit Namen um sich, gestikulieren und verziehen ihre Mienen, dann lachen sie sich an. Möglicherweise haben sie mehr gemeinsam als nur die Tatsache, im selben Jahr in denselben verschlafenen Winkel Mitteleuropas geboren worden zu sein - mitten hinein in eine historische Sensation.

"Land ihrer Wahl"

Als sich Michael am 7. Jänner 1989 entschloss, diese Welt mit seiner Präsenz zu beehren, war Nickelsdorf nur ein trauriges Dorf im ärmsten und östlichsten Bundesland Österreichs, knapp vor den deprimierenden Wachtürmen des Eisernen Vorhangs. Michaels Eltern wollten, anders als viele andere Gleichaltrige, trotzdem hier bleiben.

In Nikolettas Leben war die Grenze sehr präsent, sie erlebte die Öffnung praktisch hautnah. Sie kam am 6. Juni 1989 als Tochter eines Hegyeshalomer Grenzgendarms und einer Postbediensteten zur Welt.

Am 10. September 1989 erklärte der damalige ungarische Außenminister Gyula Horn offiziell, dass Ungarn den Bürgern der DDR ab 11. September, 00.00 Uhr, die Ausreise "in ein Land ihrer Wahl" erlauben werde. Und so war es dann auch: Kilometerlange Blechschlangen stauten sich kurz nach Mitternacht in Hegyeshalom, um erstmals ungehindert nach Nickelsdorf zu kommen, das in ihren Ohren mindestens so aufregend klang wie "London", "Paris" oder "New York". Insgesamt 51.440 DDR-Bürger rollten via Ungarn und Österreich in die heiß ersehnte Freiheit. Michael war in diesen aufregenden Tagen gerade erst acht Monate alt, er gewöhnte sich an feste Nahrung und das Leben im aufrechten Sitz. Nikoletta war erst drei Monate alt. Sie strampelte, schlief, schrie und lächelte viel - und das mit der festen Nahrung sollte noch ein wenig dauern.

"Wirklich was los"

Heute sagt Michael, dass er von den Ereignissen 1989 zum ersten Mal als 13-Jähriger gehört habe. Die Oma habe ihm erzählt, dass "vor 30 Jahren hier alles zu war Richtung Ungarn und dass die Menschen dort nicht frei waren". Er habe sich das damals "gar nicht vorstellen" können. Als er in der Schule mehr lernte, habe ihn das "immer sehr interessiert", sagt er. Heute interessiere ihn vor allem ein eigenes Auto: "Dann könnte ich auch in die Disco nach Moson fahren - und nach Györ, da ist nämlich wirklich was los."

Nikoletta kann das nur bestätigen: Sie hat es, ausgeh-technisch, noch nie nach Nickelsdorf gezogen. Da schon eher nach Parndorf, zum Einkaufen im Outlet-Center. Ansonsten geht sie auch lieber in Györ weg, "da kann ich auch mit dem Bus hinfahren". Über die Ereignisse von 1989 hat sie erstmals von den Großeltern gehört. Im Geschichtsunterricht sei man gerade erst beim Zweiten Weltkrieg angelangt, sagt sie, "der Kommunismus kommt noch". Der Name Gyula Horn sagt ihr eher nichts, aber an einen Klassenaustausch mit der Schule in Zurndorf kann sie sich erinnern: "Die Österreicher lernen anders als wir, viel lebendiger. Das hat mir gut gefallen."

Gefallen würde ihr auch, wie Michael, wenn der "Discobus", der Partytiger im österreichischen Grenzgebiet an Wochenend-Nächten aufliest, auch mal einen Abstecher nach Ungarn machen würde. "Möglich wäre das doch jetzt?", fragt Michael mit einem Seitenblick auf seinen Freund, den Nickelsdorfer Bürgermeister Gerhard Zapfl. "Wir tun unser Möglichstes", verspricht der. Sein Hegyeshalomer Kollege László Szöke nickt eifrig und erzählt, dass ungarische Disco-Besitzer eine "Zwei-Euro-Taxi"-Initiative gestartet hätten.

Die beiden Lokalpolitiker Zapfl und Szöke bewegt Anderes mehr: Wird die Kriminalität hier steigen, weil die Grenze offen ist? Wahrscheinlich nicht, meinen beide. Besorgt sind sie trotzdem. Für Zapfl und Szöke hätte es der Schengen-Erweiterung nicht bedurft - man pflegt seit Jahren regen Austausch.

Anders die Jungen: "Es wird praktischer, hinüber zu fahren", hofft Michael. "Vielleicht ist dann auch mehr los hier", mutmaßt Nikoletta. Die Bürgermeister fühlen sich herausgefordert und erzählen von Kommunalforen, Heurigenabenden, Folklore-Veranstaltungen. Michael und Nikoletta tauschen Blicke. Mit 18 verständigt man sich auch ohne Worte über Erwachsene. (Petra Stuiber, DER STANDARD - Printausgabe, 21. Dezember 2007)