Begegnung zweier gar nicht so weit voneinander entfernter Cousins: Ein Compsognathus hascht nach einem Archaeopteryx.

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Ein weiterer Verwandter: der Microraptor

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Noblesse oblige: Auch unter Fossilien gibt es eine Adelsklasse - solche, die in der Paläontologie zentrale Bedeutung als Untermauerung der Evolutionstheorie erlangten und/oder über die Fachwelt hinaus für Aufsehen sorgten: Der Ichthyostega und der Tyrannosaurus, Australopithecus-Frau "Lucy" oder das Mammut - und zuletzt der "Hobbit". Das wohl bekannteste Fossil aller Zeiten gehört jedoch zu einem kleinen Tier, das die Abstammung der Vögel von den Reptilien vor Augen führte: dem Archaeopteryx.

Zank um den Zahnvogel

... und dabei wurde es in seiner Bedeutung zunächst gar nicht erkannt. 1861 wurde das erste Archaeopteryx-Skelett nahe dem deutschen Solnhofen entdeckt und bald der Fachwelt präsentiert - zu einem Zeitpunkt, da Charles Darwins "The Origin of Species" gerade mal zwei Jahre alt und Evolution in wissenschaftlich interessierten Kreisen das Diskussionsthema schlechthin war. Ein vermeintlich schicksalhaftes Zusammentreffen von Ereignissen - allerdings kein sehr förderliches, wurde das Fossil doch zunächst zum Streitobjekt weit auseinander laufender Abstammungstheorien.

Ludger Bollen entfaltet in den wissenschaftshistorischen Abschnitten von "Der Flug des Archaeopteryx" das bunte Bild einer akademischen Welt des 19. Jahrhunderts: Streit, wüste Schacherei mit Fossilien und forscherlicher Egoismus - bis hin zum Verwüsten von Fundstätten, um sie dem Zugriff konkurrierender Expeditionen zu entziehen - all das blüht nicht weniger schillernd als die beginnende Kategorisierung einer versunkenen Tierwelt. Herrlich: die im Buch enthaltenen viktorianischen Dinosaurierdarstellungen, in denen von träge dahindümpelnden gemästeten Drachen bis zu "fliegenden Beuteltieren" teils aberwitzige Ideen visualisiert wurden.

Wunderschöne Bilder

Diesen stehen als einer der Hauptpluspunkte des Buches die Illustrationen Bollens gegenüber: Der Künstler und Grafik-Redakteur des "Spiegel" hat im Stil renommierter Illustratoren wie Douglas Henderson oder Mauricio Antón zahlreiche mesozoische Spezies lebendig ins Bild gesetzt. Weder die graubraune Eintönigkeit früherer Dinosaurierbilder noch modische Extravaganzen, denen manche der heutigen Illustratoren frönen und einen Tyrannosaurus durch Farbgebung und Federkleid wie eine sechs Tonnen schwere Drag Queen aussehen lassen, sind Bollens Stil: er findet einen gelungenen Mittelweg.

Dass Bollen hauptberuflich kein Paläontologe ist, hat dem Buch überraschenderweise gutgetan: So ist er vorsichtig genug geblieben, zu jedem Themenkreis - von den biomechanischen Aspekten des Fliegens bis zur Evolution der Feder - die einander mitunter heftig widersprechenden wissenschaftlichen Theorien anzuführen und sie eher implizit in eine plausible Schnittmenge münden zu lassen. Wo Fragen offen bleiben, wird dies ehrlicherweise auch ausgesprochen, anstatt mit einer eigenen Theoriewalze drüberzufahren.

Runter kommen sie alle - aber wie rauf?

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich abgezeichnet, dass viele vermeintlich einzigarte Merkmale der Vögel nicht nur beim Archaeopteryx, sondern auch bei der näheren Dinosaurier-Verwandtschaft vorhanden waren: von Federn als Mittel der Isolierung bis zu Luftsäcken zwecks verbesserter Thermoregulierung - eine ganze Gattung war für das Fliegen, das letztlich wohl "nur" ein Nebenprodukt anderer evolutionärer Anpassungen darstellte, gewissermaßen schon präadaptiert. Und doch bleibt die scheinbar so simple Frage, wie sich die Urvögel zum ersten Mal in die Luft geschwungen haben, bis heute ungeklärt: "Vom-Baum-herunter" oder "Vom-Boden-hoch", so die beiden Grundmodelle - und jedes hat Anhänger, die genau ins Feld führen können, warum das gegnerische Modell unmöglich richtig sein kann.

Besonderes Lesevergnügen bietet daher das Kapitel "Wege zum Aufstieg", in dem Bollen die teils skurrilen Erklärungsversuche Revue passieren lässt, welche evolutionären Vorteile die Vogelvorfahren von noch nicht ganz flugtauglichen Flügeln gehabt haben könnten: Benutzten sie sie als Käscher zum Insektenfangen, fächerten sie damit zur Brautwerbung oder schirmten sie damit ihre Eier ab? Auch hier verdeutlichen Illustrationen, wie unterschiedlich sich die Fachwelt den letzten Schritt vor dem Abflug ausgemalt hat.

Realisierung eines Traums

Bollens Buch - dem in einer Zweitauflage das Korrektorat noch zu einer gewissen Umverteilung der Satzzeichen verhelfen könnte - bietet gut recherchierten, trotzdem auch für Laien verständlichen Lesestoff für alle paläontologisch Interessierten. Und ist zugleich - nicht umsonst beginnt und endet das Buch mit der Bruchlandung des Luftfahrtpioniers Samuel Pierpont Langley im Jahr 1903, kurz vor dem Erstflug der Wright-Brüder - eine Liebeserklärung an den ewigen Traum vom Fliegen. (Josefson)