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Für den regelmäßigen Zustrom kräftiger Rekruten erfand das Osmanische Reich die "Devirschirme", die Knabenlese, eine reichlich barbarische Praxis. Christen-Söhne vornehmlich aus den unterjochten Balkanprovinzen wurden an den Hof des Sultans verschleppt, wo man sie ihre Herkunft vergessen ließ. Bei Mechmed Pascha Sokoli gelang dies nur ungenügend. Der bosnische Dorfbub stieg am Bosporus zwar mächtig auf, zum Großwesir und Sultan-Schwiegersohn. Aber in dem Herrn am Hofe lebte weiter das geraubte Kind. Das träumte von dem tiefgrünen Fluss, über dessen reißende Wasser seine Entführer einst mit ihm enteilten: die Drina, Grenzstrom zwischen Bosnien und Serbien, Scheitellinie zwischen Christen und Muslimen, und wenn man so will, auch zwischen Okzident und Orient. Keine feste Brücke führte über den wilden Fluss. Die ließ erst der heimatverliebte Pascha bauen.

Es gibt keine zufälligen Bauwerke, schreibt Ivo Andric in seinem epochenüberspannenden Roman, der selbst dahinfließt wie ein langer grüner Fluss. Die Brücke ist das Amphitheater, und die Stadt, die mit dem Bauwerk beschenkt wird, liefert die Geschichten, um diese Bühne über mehrere Jahrhunderte hinweg zu bespielen. Erst 1914, als das Osmanische Weltreich schon dem Untergang geweiht ist, und sein Balkannachfolger Österreich-Ungarn ebenfalls, da fällt auch das große Brückenwerk des Wesirs. Der 1892 geborene Andriæ glaubte wie einst der Pascha an die Notwendigkeit des Brückenbaus zwischen den Kulturen. In Wischegrad, der Drina-Stadt, kommen die Religionen und Nationen eine ganze Weile auch trotz gewisser "von der Gewohnheit geheiligter Grobheiten" nicht übel miteinander aus, solange ein Gefühl für Ordnung und Maß obsiegt. Aber der Druck äußerer Mächte lässt der stillen Welt rund um die Brücke ihren Frieden nicht. "Mord im Namen höherer Interessen", räumt die Dämme weg.

Für den Katholiken Andriæ, der stets die religiöse Toleranz empfahl, waren Bosnien und sein Vielvölkermosaik das Lebensthema. Im heutigen, kriegerisch zerfallenen Ex-Jugoslawien tun sich Nationalisten aller Couleurs schwer mit dem 1975 verstorbenen Dichter. Die meisten würden den Literaturnobelpreisträger von 1961 zwar gern für sich beanspruchen, vielen Serben aber ist er, schon weil Katholik, "nicht serbisch" genug, und in Bosnien stürzte man bereits Denkmäler des Dichters, von dem es nun heißt, er habe Hass gegen Muslime geschürt. Für die verschlungen poetischen Geschichten, die sich über die Drina-Brücke ranken, gilt das jedenfalls nicht. Andriæ leidet mit den verwundeten Seelen, deren Schicksal er beschreibt, und er erzählt mit Nachsicht von Liebeshändeln und Liebesleid, rund um die elf Bögen der osmanischen Brücke.

Da gibt es Gestalten, über die man gern noch viel mehr lesen würde, die herbe Schöne Lottika beispielsweise, die ein Hotel direkt an der Brücke betreibt, in das man eigentlich nicht hineingehen sollte. Aber dann war doch jeder schon mal drin, bevor die kleine Welt von Wischegrad endgültig zerbricht, und Andriæ legt der lebensklugen Wirtin die Warnung vor jenen neuen Menschen in den Mund, denen es mehr auf "ihre Lebensauffassungen ankommt denn auf das Leben selbst". Irrsinnig und vollkommen unfasslich erscheint dies der klugen Frau. Es klingt, als habe der Dichter geahnt, was einem Bosnien noch alles blüht. (Christiane Schlozer / DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28.12.2007)