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Jugend am Werk: Töchter und Söhne kosovarischer Serben protestieren in Mitrovica gegen die Bedrohung der "Seele Serbiens" durch die Politik der EU.

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Der Weg der serbischen Provinz in die Unabhängigkeit scheint vorgezeichnet. Wie tragfähig aber sind die Argumente der Wegbereiter? - Eine Stimme gegen die "Missachtung der nationalen Integrität".

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Der Kosovo gewinnt auf seinem Weg zur Unabhängigkeit an Fahrt: Die Führer der Kosovo-Albaner, Hashim Thaci und Agim Ceku, drohen damit, jederzeit einseitig ihre Unabhängigkeit zu erklären. Zweifellos wird Serbien dies mit der Unterstützung Russlands unter Wladimir Putin ablehnen.

Ein Großteil der Welt scheint zu denken, dass Serbiens Rolle im Balkankrieg in den 90er Jahren das Land ins Unrecht setze und dass die Angelegenheit damit erledigt sei. Doch spricht auch einiges für den serbischen Standpunkt, und viele andere Länder mit ethnischen Minderheiten, die sich in einem Gebiet konzentrieren, haben allen Grund angesichts des Präzedenzfalles, den eine Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo setzen würde, unruhig zu werden.

Man bedenke zunächst, dass der Kosovo das historische Herz und die religiöse Seele Serbiens darstellt. Hunderte von serbisch-orthodoxen Kirchen, Klöstern und Heiligtümern im Kosovo bezeugen dies.

Zudem spiegelt der demografische Wandel des Kosovo in den letzten 100 Jahren, in denen die Albaner die dort ansässige serbische Bevölkerung zahlenmäßig überholten, zum Teil einen Zustrom von Albanern aus Albanien wider, das aufgrund von Enver Hoxhas hermetischem Kommunismus jahrzehntelang ein politisches und wirtschaftliches Wrack war. Gleichzeitig verließen viele Serben vor und nach der NATO-Intervention 1999 das Kosovo, entweder auf der Flucht vor Gewalttaten der Albaner oder einfach angelockt durch bessere Chancen in Serbien selbst.

Stärker gerechtfertigt

Für die Serben ist Serbiens Anspruch auf das Kosovo wesentlich stärker gerechtfertigt als Russlands Anspruch auf Tschetschenien, Chinas Anspruch auf Xinjiang, Indiens Anspruch auf Kaschmir (den Pakistan immer noch abstreitet) und der Anspruch der Philippinen auf die Insel Mindanao. Bei allen handelt es sich um Provinzen mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit, die Teil eines Staates mit nichtmuslimischer Mehrheit sind. Doch sind Russland, China und Indien große Staaten, die die Abtrennung ihrer Territorien nicht zulassen. Daher gibt es keine ernsthaften internationalen Bemühungen, sie dazu zu zwingen. Die Philippinen haben die Kontrolle über Mindanao effektiv verloren, genau wie Serbien die Kontrolle über das Kosovo verloren hat, dennoch hat niemand die einseitige Unabhängigkeitserklärung Mindanaos anerkannt. Warum sollte also die Erklärung des Kosovos akzeptiert werden?

Nicht nur Russland, China und Indien sprechen sich gegen eine Unabhängigkeit des Kosovo aus, sondern auch das mehrheitlich muslimische Nigeria, dessen Provinz Biafra, in der Ende der 60er Jahre ein blutrünstiger Bürgerkrieg gegen die katholischen Ibos geführt wurde, weiterhin Teil des Staates bleibt. Das von einer muslimischen Mehrheit bevölkerte Indonesien hat seine größtenteils katholisch bevölkerte Provinz Osttimor durch die politische Intervention des Westens verloren, doch waren seine Ansprüche auf Osttimor dürftig, da es die Insel erst vor einigen Jahrzehnten besetzt hatte.

Zweierlei Maß?

Selbst in Europa, wo Katalonien und das Baskenland auf eine Abspaltung von Spanien drängen, einige Einwohner Flanderns ein Ende Belgiens herbeiwünschen und die regierende Partei Schottlands, die Scottish National Party, letzten Endes eine Trennung von Großbritannien will, wird die Unabhängigkeit des Kosovo bei weitem nicht allgemein unterstützt.

Schlimmer noch, die einfachen serbischen Bürger sehen eine offensichtliche internationale Doppelmoral. Die territoriale Integrität und Souveränität Kroatiens und Bosniens wurden in den 90er Jahren trotz der Unabhängigkeitserklärungen der serbischen "Republik Serbische Krajina" in Kroatien und der serbischen "Republika Srpska" in Bosnien durchgesetzt. Warum wird das Kosovo anders behandelt?

Derzeit gibt es in Serbien rund 700.000 serbische Flüchtlinge aus Kroatien und Bosnien, die nicht in der Lage oder willens sind, in ihre Heimat zurückzukehren, unter ihnen nahezu alle Serben aus Kroatien, außer denen, die zum Katholizismus konvertierten, um Kroaten zu werden. Tatsächlich sind gegenwärtig nirgendwo sonst in Europa mehr Flüchtlinge beheimatet als in Serbien. Wenn der Kosovo die Unabhängigkeit erlangt, werden diese Zahlen steigen, da mit einer Massenflucht aller übrigen Serben zu rechnen ist, es sei denn, ihre territorialen Bastionen - besonders im nördlichen Kosovo, in der Gegend um Mitrovica - werden Serbien angeschlossen.

Präzedenzfall?

Allgemeiner betrachtet, würde eine Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo zeigen, dass gewalttätige Abspaltung funktioniert. In dem Fall sollte die Welt sich daran gewöhnen, dass die "Kosovo-Strategie" auch andernorts Anwendung findet. Erst greifen anonyme ethnische Sezessionisten die Polizei und Zivilisten an. Da die Sicherheitskräfte nicht wissen, wo in der Zivilbevölkerung sich der Feind verbirgt, schlagen sie wahllos zurück. Menschenrechtsverletzungen rufen einen internationalen Aufschrei und Missbilligung hervor, denen Intervention und Okkupation durch ausländische Militärstreitkräfte folgen. Und am Ende verliert der Staat die Kontrolle über seine Provinz, während die Sezessionisten die Unabhängigkeit erklären.

Friedensprinzip

Man sollte verhindern, dass im Kosovo ein derartiger Präzedenzfall geschaffen wird, nicht nur um die Stabilität auf dem Balkan zu gewährleisten, sondern in allen Ländern mit unzufriedenen ethnischen Minderheiten. Gemäß der Charta der Vereinten Nationen, der Schlussakte des Abkommens von Helsinki von 1975, die die Unverletzbarkeit der Grenzen Europas garantiert, und der UNO-Resolution 1244 von 1999, die die Unverletzbarkeit der bestehenden Grenzen Serbiens garantierte, muss die territoriale Integrität und Souveränität Serbiens aufrechterhalten werden.

Im ehemaligen Jugoslawien hat es genug Zerstörung und Massenmorde gegeben. Die Aufrechterhaltung der nationalen Integrität ist ein allgemeines Friedensprinzip, von dem Serbien nicht ausgeschlossen werden sollte. (Raju G. C. Thomas, Project Syndicate, 2007., www.project-syndicate.org Aus dem Englischen von Anke Püttmann, DER STANDARD, Printausgabe 28.12.2007)