Manchmal ist die Wissenschaft spannend wie ein Krimi. Im Frühjahr 2004 erreichte theoretisch interessierte Biologen, Systemtheoretiker und Wissenschaftshistoriker eine ungewöhnliche Nachricht: Ein US-amerikanischer Buchhändler bot sechs Kisten mit veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften Ludwig von Bertalanffys zum Verkauf an.

Der 1901 in Wien geborene, 1941 in Wien Professor gewordene und 1949 in die USA emigrierte Biologe und Philosoph Bertalanffy gilt als einer der Begründer der biologischen Systemtheorie. Seine 15.000 Bände umfassende Bibliothek war in Wien den Bomben zum Opfer gefallen, und sonst hinterließ er bei seinem Tod 1972 kein wissenschaftliches Vermächtnis - oder jedenfalls hatte das die Fachwelt bis dahin geglaubt.

Die Nachricht von seinem aufgetauchten Nachlass versetzte die einschlägige Scientific Community in entsprechende Aufregung, zumal die ominösen Kisten auch an die 600 persönliche Briefe enthalten sollten. Gleichzeitig gab es bezüglich der Authentizität einige Skepsis. Doch Bertalanffys Schwiegertochter, die den Fund begutachtete, erklärte ihn für echt.

Wie sich herausstellte, waren die Kisten mehr als 30 Jahre unbeachtet in einem kleinen Second-Hand-Buchladen in Buffalo (New York), wo Bertalanffy seine letzten Lebensjahre zugebracht hatte, herumgestanden. Erst beim Verkauf des Geschäftes wurde der neue Besitzer darauf aufmerksam.

Nach der Authentifizierung setzten hektische Verhandlungen ein - einerseits um zu verhindern, dass die Werke bei einer Auktion stückweise verscherbelt wurden, andererseits, um das Geld aufzutreiben, sie als Gesamtes zu erwerben.

Rückkehr nach Wien

Schließlich gelang es dem in Wien neugegründeten internationalen Bertalanffy Center for the Study of Systems Science (BCSSS), das gesamte Material zu erwerben. Als neue Heimat für Bertalanffys Vermächtnis bot sich die Universität Wien an, wo vier Monate später tatsächlich sechs Bananenkisten mit besonders interessantem Inhalt eintrafen.

Manfred Drack vom Department für Theoretische Biologie und sein Pariser Kollege David Pouvreau beleuchten derzeit im Rahmen eines FWF-Projektes unter anderem die Rolle der biologischen Systemtheorie heute. Dabei leistet ihnen das so geschaffene Bertalanffy-Archiv unschätzbare Dienste. Wie sich herausstellte, unterschied sich Bertalanffys Verständnis seiner Theorie in wesentlichen Punkten von manchen heutigen Anwendungen.

Die in den 1920er- und 30er-Jahren von Bertalanffy und Paul A. Weiss, einem prominenten Experimentalbiologen, entwickelte Systemtheorie des Lebens forderte einen ganzheitlichen Ansatz der Biologie, der bedeutete, Organismen nicht als Anhäufung physikalischer und chemischer Ereignisse zu sehen, sondern als lebende Systeme, die hierarchisch aufgebaut sind und in Wechselwirkungen mit ihrer Umwelt stehen. Im Unterschied zu vielen heutigen Lesarten von "Ganzheitlichkeit" haftete Bertalanffys biologischer Systemtheorie jedoch keinerlei metaphysischer Holismus an - auch wenn über ihre mögliche Nähe zu bestimmten Ideologien des Nationalsozialismus bis heute debattiert wird.

Seine Systemtheorie war jedenfalls als neuer Ansatz für die Wissenschaft gedacht - einer Wissenschaft, die man in der Zeit zwischen den Weltkriegen oft als kraftlos und inhaltsleer wahrnahm. Im Lauf seines Lebens begeisterte er sich auch für die Erkenntnisse, die die Mathematik in die Biologie brachte.

Er war fasziniert davon, dass bestimmte Gleichungen in Physik, Chemie und Biologie auftauchten, und postulierte eine zugrundeliegende allgemeine Gesetzmäßigkeit, die letztendlich auch auf die Geisteswissenschaften anwendbar hätte sein sollen.

Diese Annahmen haben sich noch nicht direkt bestätigt. Doch seine Arbeiten haben unter anderem einen wesentlichen Beitrag zur Entstehung der theoretischen Biologie, zur Erkenntnistheorie und für die Modellbildung geleistet. (Susanne Strnadl/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 2.1. 2008)