Dejan Enev.

Foto: Corn
Am Anfang war der Herbst oder eine Frau, die hochgewachsen, schlank und streng war wie der Glockenturm einer Kirche. Oder war es doch ein Lied? Nein, so gelange ich zu schnell zu Dejan Enev, zu seinen Erzählungen, die schlicht, klar und kraftvoll sind, wie auf Holz gemalte Ikonenbilder, ungeahnte, mit allen Wassern gewaschene Heilige. Und da müsste ich mich gleich niederknien. Nein, ich mache lieber einen Umweg.

Will man den deutschsprachigen Leser in Verlegenheit bringen, frage man ihn, wie viele bulgarische Autoren er kenne. Mit Fragen nicht nur zur Literatur, sondern zu Bulgarien allgemein, könnte man den besten Kandidaten einer beliebigen Quizshow im deutschsprachigen Raum zum Scheitern bringen und ihm den Traum von den Millionen rauben, es sei denn, er ist selbst Bulgare. Für viele ist Bulgarien ein Land jenseits des Wissens, ein Land der scheiternden Träume und der geraubten Millionen. Leidenschaftliche Leser können mindestens einen Autor aus jedem beliebigen Balkanland aufzählen, aber selten einen bulgarischen. Die bulgarische Literatur ist in diesen geografischen Längen und Breiten immer noch ein Geheimnis. Ganz langsam und still, ähnlich illegalen Einwanderern aus den Zeiten vor dem EU-Beitritt, schaffen es einzelne Werke, sich über die Schengengrenze zu schmuggeln. Aber als ob die Einwanderungsgesetze auch auf Bücher übertragen würden, schaffen sie es kaum, aus ihrem Migrantendasein auszubrechen. Hinter jedem Desinteresse kann man politische, ideologische und historische Gründe finden, aber davon soll hier nicht die Rede sein. Ich werde lieber von einem anderen Phänomen berichten, das eine enorme Wirkung auf die Entwicklung der bulgarischen Literatur hatte.

Die Bulgaren haben jahrhundertelang ein sehr interessantes Verhältnis zum Wort gepflegt. Sie haben dem geschriebenen Wort misstraut (obwohl sie schon seit dem neunten Jahrhundert eine eigene Schrift hatten). Anstatt zu schreiben, haben sie lieber gesungen (vielleicht hatten sie sich immer schon als ein orphisches Volk verstanden). Worte, die sich nicht für ein Lied eignen, erreichen weder das Ohr noch das Herz. Sie geraten schnell in Vergessenheit, sind sterblicher als die anderen. Geschriebene Worte sind gefangene, gezähmte Worte. Sie liegen in den Büchern wie in Särgen. Einmal geschrieben, werden sie zu Gegenständen. So wie eine Schriftrolle oder ein Buch Gegenstände sind. Gegenstände kann man kaufen, besitzen, anhäufen, aber auch stehlen. Sie sind leichte Beute, und was das Schlimmste ist, man kann sie verbrennen, vernichten und somit die Erinnerung eines Volkes auslöschen. Mit den gesprochenen und gesungenen Worten verhält sich die Sache ganz anders. Das Wort, das von Mund zu Mund geht, erlischt erst dann, wenn auch der letzte Mund seinen Atem aushaucht. Es ist immer an ein Gesicht, eine Zunge, eine Stimme, an einen Menschen gebunden. Es lebt, es atmet, und es ist jederzeit so warm wie der Körper. Über die meisten Ereignisse der bulgarischen Geschichte, besonders über jene, die während der fünfhundertjährigen türkischen Herrschaft stattgefunden haben, gibt es keine Aufzeichnungen, sondern nur Lieder. Und das zieht sich mit wenigen Ausnahmen bis ins 19. Jahrhundert durch. Vielleicht war es der Selbsterhaltungstrieb, der die Bulgaren bewegte, ihr Wissen, ihre Geschichte, ihre Identität lieber in Liedern aufzubewahren als in Schriften. Denn Bücher zu zerstören ist leichter als Lieder. Um ein Lied auszulöschen, müsste man viele Menschen, gar ein ganzes Volk vernichten. Also hat das bulgarische Volk seine Erinnerungen dem gesprochenen, dem gesungenen Wort anvertraut und nicht dem geschriebenen. Sein Gedächtnis ist ein singendes. Die bulgarischen Volkslieder sind deswegen auch so vielfältig, poetisch und heute noch wirksam. Und es gibt kaum einen bulgarischen Schriftsteller, der nicht von ihnen beeinflusst wurde. Aus ihnen entspringt auch die neue bulgarische Literatur. Die bulgarische Literatur ist eine relativ junge. Kontinuierlich geschrieben wurden literarische Texte erst ab Mitte des 19.Jahrhunderts. Und schon von dieser Zeit an haben sich Gedichte und Erzählungen als eine sehr beliebte literarische Gattung etabliert.

Nun will ich einen Seitensprung machen, um ein anderes, sehr inter-essantes Phänomen zu betrachten. Nach der Wende, nach dem Sturz des realen Sozialismus, geschah mit den meisten bulgarischen Autoren etwas, das auf eine unerwartete Weise tiefe Spuren im literarischen Leben hinterlassen sollte. Denn es war nicht die Zeit der Schreiber, sondern die Zeit der Redner gekommen. Ein Großteil der Schriftsteller stürzte sich in die Politik. Es war ihnen nicht genug, die Ereignisse festzuhalten, vielmehr wollten sie sie mitbestimmen. Sie wollten nicht mehr Geschichten niederschreiben, sondern Geschichte schreiben. Im ersten frei gewählten Parlament saßen mehr als zwanzig Schriftsteller, verteilt auf die verschiedensten Parteien. Und das Wort, launisch wie es ist, verzieh ihnen diesen Seitensprung nicht. Außerdem, wer will schon die Bücher so vieler Parlamentarier lesen.

Dejan Enev gehört zu den Autoren, die dem Wort die Treue hielten (sowohl in guten als auch in schlechten Zeiten), und er entschied sich, über etwas zu schreiben, das die größte Herausforderung für jeden Autor darstellt: über die Gegenwart. Über nichts schreibt es sich schwerer als über die Gegenwart, denn damit kennt sich jeder aus. Manch einer sogar besser als der Autor. Sie setzt einem Autor ununterbrochen Grenzen. Sie ist mal zu wechselhaft, mal zu unklar, mal so monoton wie das Ticken einer Uhr oder so nah und erdrückend wie die Umarmung eines großen, ungeliebten Menschen, sodass einem die Luft ausbleibt. Sie entzieht sich ständig, und kaum hat man das Gefühl, einen Zugang zu ihr gefunden zu haben, schlägt sie einem die Tür vor der Nase zu. Sie zu bändigen ist genauso schwer, wie mit dem Atmen aufzuhören. Setzt man auf sie, kann man leicht verlieren. Das wissen Propheten, Politiker und Wahrsager nur zu gut. Denn sie kennt keinen Aufschub. Sie ist die Zeit aller Schmerzen, aber auch die einzige mögliche Zeit für das Glück.

Die Zeit aller Schmerzen

Wenige Autoren verfügen über den Zauber, diese vor unseren Augen verrinnende Zeit aufzufangen. Dejan Enev ist einer von ihnen. Seine Erzählungen wirken wie Stücke eines großen, zerbrochenen Spiegels, beschlagen noch vom Atem seiner Figuren, oder ist das unser eigener Atem, der während des Lesens immer schneller geworden ist? Gerade waren sie noch da, und würde man mit der Hand über die vernebelte Fläche streichen, würde man noch das Aufblitzen einer Träne oder eines Lächelns sehen. Aber aufpassen! Man könnte sich an den Kanten schneiden. Im Unterschied zum deutschsprachigen Raum wurden in Bulgarien Erzählungen und Erzählbände immer sehr hochgeschätzt. Vielleicht weil sie nach den Gedichten dem Lied am nächsten sind und sich sehr gut eignen, von Mund zu Mund weitergegeben zu werden. Es ist sicher kein Zufall, dass einige der bedeutendsten Erzähler Bulgariens, jene, die stilistisch am nachhaltigsten die Literatur des Landes geprägt haben, nie einen Roman geschrieben haben. Natürlich kann man Dejan Enev auch als Teil dieser Tradition sehen, doch seine Radikalität, seine Konsequenz und sein unermüdliches Vertrauen in diese literarische Gattung sind ohne Beispiel in der bulgarischen Literatur. Kein Wort soll zu viel oder zu bedeutungsschwer sein, damit es das feine Netz, in dem die Geschehnisse aufgefangen sind, nicht durchbricht. Immer den einfachen, den direkteren Weg zum Ereignis nehmen, lieber den Leser halb hungrig halten, als ihn zu übersättigen. Die Würde den einfachen Worten zurückgeben, den Ton gleichhalten, sodass keiner mehr an einen Zaubertrick glaubt, wenn das Selbstverständliche plötzlich außergewöhnlich und das Außergewöhnliche plötzlich selbstverständlich wird. Und dann noch einmal etwas wegnehmen, weiterschleifen, bis die Erzählung die Schlichtheit und Wirksamkeit einer abgeschossenen Kugel erreicht. Egal, wie banal es auch klingt, aber Enev gehört zu jenen Autoren, die wissen, worüber sie schreiben, die die Vielschichtigkeit des Lebens aus der Perspektive zahlreicher Berufe kennen. Er war Nachtwächter im Leichenhaus, Maler und Anstreicher im Kino, Schlosser in einer Militärfabrik, später Sanitäter in der Psychiatrie, Arbeiter in einer Holzfabrik und Journalist, dazwischen unterbricht er sein Zahnarztstudium, scheitert dreimal an der Aufnahmsprüfung zur bulgarischen Philologie, wird beim vierten Mal aufgenommen und schließt das Studium ab.

In einem seiner Essays erfährt man, dass sein erster eigenständiger Schreibversuch bereits in der vierten Grundschulklasse stattgefunden hat. Er hat einen Aufsatz über den Herbst geschrieben, und die Literaturprofessorin, Genossin Kaltcheva, eine Frau, hochgewachsen, schlank und streng wie der Glockenturm einer Kirche, sei so sehr mit seinem Aufsatz zufrieden gewesen, dass sie mit ihm von Klasse zu Klasse gegangen sei, und er musste ihn dann vor allen laut vorlesen. Sechzehn Herbste vergehen, bis sein erster Erzählband erscheint. Die Nachricht erreicht ihn in der Holzfabrik, während er gerade versucht, seine angesoffene russische Arbeitskollegin Xenia so weit wie möglich von der Pressmaschine fernzuhalten, da sie in diesem Zustand häufig ohnmächtig wird. Lektüre für den Nachtzug heißt das Buch.

Ich bin sehr glücklich, dass ich im Zuge des Erscheinens dieses Buches Dejan Enev auch persönlich kennenlernen konnte. Eines Tages wollte er mir den Ort zeigen, wo er sich am wohlsten fühlt. Es war das Dorf seiner Schwiegereltern, ein unscheinbares Dorf, fünfzig Fahrminuten von Sofia entfernt; gepresst zwischen zwei Hügeln wirkten die Häuser wie der Schaum zwischen den Lippen eines lang gerittenen Pferdes. Ich suchte nach etwas Besonderem und konnte es nicht finden. Wir waren mit dem Essen fertig, als seine Schwiegermutter ein Akkordeon holte und mit ihrer von mehr als siebzig Herbsten gefärbten Stimme zu singen begann. "Siehst du, Dimitré, warum es mir so gut geht?", rief mir der Schwiegervater nach einer Weile zu. "Weil mein Leben wie ein Lied ist."

"Wie viele Lieder kennen Sie?", wollte ich später von ihr wissen. Früher habe sie mehr gekannt, aber jetzt nur noch um die 300. "Alter, was soll man da machen", antwortete sie und goss uns die Schnapsgläser voll.

"Hier fühle ich mich am wohlsten", sagte Dejan später zu mir, als wir in den Hof gingen, um zu rauchen.

In einem Essay, in dem er seine Literaturprofessorinnen verewigt hat, beschreibt Dejan Enev auch seine erste Begegnung mit Gentscho Stoev, einem der Schriftsteller, die er in seiner Jugend am meisten bewundert hat. "Er wohnte im letzten, im 17.Stock. Ich war sehr aufgeregt, als ich ihn vor mir sah, und in meiner Verlegenheit sagte ich: "Muss sicher sehr schön sein hier in der Höhe."

"Ich wollte noch höher, aber dort ist der Himmel", antwortete dieser.

Was ist am Anfang gewesen? Ein Lied, der Herbst oder eine Frau, hochgewachsen, schlank und streng wie der Glockenturm einer Kirche? Irgendwann werde ich Dejan Enev fragen, aber bis dahin werde ich gierig auf neue Erzählungen von ihm warten und nach jeder gelesenen eine Zigarette anzünden, um den Genuss zu verlängern oder einfach, um dem Rauch die Schuld zu geben, falls ich wieder diesen brennenden Reiz in den Augen spüren sollte. (Dimitré Dinev, DER STANDARD/Printausgabe, 19./20.01.2008)