Entwirft eine unheilvolle Zukunft aus den Scherben der Gegenwart: Autor Vladimir Sorokin.

Foto: Eduard Steiner
Man muss sich den "Opritschnik" Andrej Danilowitsch als das perfekt ausgeglichene Produkt einer nationalen Selbstabschottung vorstellen.

Dieser Blutordensbruder dient im Russland des Jahres 2027 dem mit absoluter Machtfülle regierenden "Gossudaren". Dieser ist aus den "Weißen Wirren" als unumschränkter Autokrat hervorgegangen. Er äugt allgegenwärtig aus Teleportern mit blondem Spitzbart auf seine Staatskinder. Rund um das liebe Mütterchen Russland ist eine Mauer hochgezogen worden. Einzig mit China, dem letzten Weltproduzenten von Luxus-Hightech-Gütern, unterhält das "russländische Reich" freundschaftliche Beziehungen. In Westeuropa herrscht der Muselmane, und verwahrloste Cyberpunks bevölkern die vom russischen Erdgas schmerzlich entblößten Städte.

Vladimir Sorokin aber, der konkurrenzlose Marquis de Sade der postsozialistischen russischen Literatur, schlüpft mit phäakischem Behagen in die Hülle des "Opritschniks" (zu Deutsch: des "Leibwächters"). Dieser fristet von früh an ein arbeitsreiches, trotz aller Privilegien durchaus fronvolles Leben. Ein in Ungnade gefallener Geschäftsmann will nach allen Regeln der Kunst beseitigt werden. Die "Opritschniki"setzen zu solchen Gelegenheiten dem Bemitleidenswerten den "roten Hahn aufs Dach": Der Wirtschaftstreibende wird über dem Hoftor aufgeknüpft, die trauernde Hinterbliebene reihum vergewaltigt, das Haus abgefackelt. So sei sie eben, die "zupackende Art der Russen", wie Held Andrej zufrieden registriert.

Während er als Vergewaltiger "den Vogel zwitschern" lässt, "gründlich und unbeirrt", ergötzt man sich an den heimischen Kulturleistungen: "Russlands Feinde kleinzukriegen macht richtig Spaß!" Und: "Wehe diesem Haus!" Es winkt jedoch Entspannung beim Dankgottesdienst: "Ende gut, alles gut. Nach getaner Arbeit ist gut Beten."

Alle diese Fürchterlichkeiten packt Sorokin (52), von jeher ein begnadeter Multistilist, in einen behaglich stimmenden Chronikton, der der Groteske mit ihren Anflügen von überschnappendem Wahnsinn erst zu realpolitischer Kenntlichkeit verhilft. Denn "Opritschniks" gab es bereits unter Iwan dem Schrecklichen.

Seine Satire ist ein höhnisches Vademecum für die Zeit der russischen Präsidentenwahlen im März des noch jungen Kalenderjahres. Zugleich leben Sorokins Utopien von der systematischen Ausleuchtung verfinsterter Möglichkeitsräume.

Man darf daran erinnern: Auch im Großstaat des amtierenden Präsidenten Wladimir Putin sterben Journalisten eines gewaltsamen Todes, häufen Oligarchen unvorstellbare Reichtümer und politisches Prestige an, wird die öffentliche Sphäre politischer Willensbildung gegen informelle Interessenvergütungen ausgetauscht. Präsidentielle Jugendorganisationen wie die "Unsrigen" ("Naschi") – ehedem: die "Zusammengehenden" ("Iduschtschie wmeste") – üben Straßendruck auf missliebige, vermeintlich unpatriotische und "zersetzende" Intellektuelle aus.

Immerhin war Sorokin selbst bereits mehrfach Zielscheibe einschlägiger Propaganda-Aktivitäten. Oder, wie der Autor in einem Interview kürzlich erzählte: "Als im November erstmals die Kreml-Schulkinderorganisation, die ,Bärchen‘ (Mischki), demonstrierte, traten sie unter der Parole auf: ,Danke, Wladimir Putin, für unsere erfolgreiche Zukunft!‘"

Konzept der negativen Utopie

Die literarische "Nachformung" eines völlig homogenen Staatskörpers ist ein moralisch ehrwürdiges Unterfangen der "political fiction". Noch nie aber hat Sorokin derart deutlich und grinsend höhnisch der real existierenden Lebenswelt nachgespürt – niemals ihre Verhaltensauffälligkeiten und Anomalien in einen Teppich voller bizarrer Ornamente gerollt.

Schmutz, Schund, Gier, Verkommenheit: Hinter allen diesen gleichsam "naturwüchsigen" Regungen lauert der saure Kitsch des Patriotismus. Zu den Obliegenheiten unseres "Opritschniks" zählt es nämlich auch, die Theaterproben für künstlerische Kreml-Darbietungen abzunehmen und für unbedenklich zu erklären.

Es sind solche, äußerlich weniger degoutante, dafür aber urkomische Passagen, in denen Sorokin zu wahrer Hochform aufläuft. Wachsoldaten stehen an den Zinnen jener "Hohen Mauer", die den Westen von Russland hermetisch abriegelt – sie beschützen eifersüchtig das staatliche Erdgas-Ventil.

Ein "Spion" wird mit Strahlenkanonen zersäbelt, worauf sich nach Anstimmen eines patriotischen Spottliedes folgende Szene ergibt: "Bei diesen Worten hebelt einer der Grenzsoldaten das Ventil auf, die beiden anderen springen herzu, halten ihre Hinterteile an den Rohrstutzen und furzen. (...) Prompt hebt drüben ein großes Heulen und Wehklagen an." Darauf der Tischvorsteher der staatlichen "Kulturkanzlei", nicht unzufrieden: "Ich sehe ein deutliches Element von Schweinigelei. Ansonsten ist die Sache aktuell, und Pfiff hat sie auch."

So arbeitet sich Wladimir Sorokin, der weitaus begabteste Autor aus dem Pool der "SOZ-Art", Stück für Stück, Roman für Roman in eine Zukunft vor, deren schlimmste Ausgestaltungen in den lässlichen Signalen einer unübersichtlichen Gegenwart bereits spürbar dissonant anklingen.

War es zuletzt eine Sekte von "Übermenschen" gewesen, die den Aufbruch Russlands in eine wunderschöne Zukunft befördert hatte (Ljod – das Eis), so ist es diesmal eben eine Brigade von Mordbrennern. Deren Vertreter finden sich abends zu trauten Sauna-Runden zusammen, wo aus den Leibern rituell ein Wurm aus Analverkehrenden gebildet wird. Dabei dürfen sich die Novizen am Schluss der sich verknüpfenden Schlange einreihen. Damit werde, frohlockt Andrej Danilowitsch, der ewige Kreislauf des Lebens "und die fortwährende Erneuerung sehr schön symbolisiert: Die Jungen erweisen den Alten ihren Respekt und führen ihnen zugleich Nährstoffe zu. Darauf bauen wir. Und das ist gut so."

So speist nicht nur die Lebenswirklichkeit die Literatur – letztere ernährt sich ihrerseits auskömmlich von den Erzeugnissen verdienter Schreckenskünstler wie de Sade oder Lautréamont. Sorokin ist drauf und dran, sie einzuholen. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 19./20.01.2008)