"Wissenschaft schafft Wissen"

Grafik: DER STANDARD
Zweieinhalb Jahre nach der verfassungsmäßigen Anerkennung der Gebärdensprache steht es nicht gut um die Situation von Gehörlosen in der Ausbildung. Die Studie „Sprache Macht Wissen“ räumt mit Mythen auf und stellt einen dringenden Handlungsbedarf fest.

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„Die Bildungspolitik für Gehörlose sollte nichts weniger als neu konzipiert und auf eine zeitgemäße, wissenschaftliche Basis gestellt werden“, stellt Verena Krausneker der Situation von Gehörlosen in Österreich kein gutes Zeugnis aus. Vor zweieinhalb Jahren wurde die Österreichische Gebärdensprache (ÖGS) verfassungsmäßig als eigenständige Sprache anerkannt, nun legt die Sprachwissenschaftlerin gemeinsam mit ihrer Kollegin Katharina Schalber die Studie „Sprache Macht Wissen“ vor, die den Status der ÖGS im Bildungswesen untersucht und am 4. Februar an der Uni Wien präsentiert wird.

Aus der Bestandsaufnahme an den sechs heimischen Gehörlosenschulen, in Integrationsklassen in ganz Österreich sowie an der Uni Wien als größter Hochschule des Landes leiten die Forscherinnen nicht nur dringenden Handlungsbedarf und drei Reformpakete ab – sondern decken auch 25 unhaltbare Mythen auf: Von „ÖGS ist keine vollwertige Sprache“, über „Gehörlose sind minderbegabt“ bis zu „die Verwendung von ÖGS behindert das Deutschlernen“, mit der Konsequenz, dass sich die gehörlosen Schüler mit Lippenlesen und Lautsprache der hörenden Welt anpassen sollen.

Das GL-Schulwesen wird bis auf Einzelfälle stark von dieser Ideologie und dem Glauben an technische Lösungen (z. B. Cochlear Implantat) geprägt. So müssen Gehörlosenlehrer die Gebärdensprache nicht beherrschen und ÖGS ist als Bildungssprache nicht im Lehrplan verankert. Aus der Sprachforschung ist bekannt, dass Deutsch für Gehörlose immer eine Zweitsprache ist, weil sie sich nur die visuell-gestisch ausgerichtete Gebärdensprache ohne Hindernisse als Erstsprache aneignen können. Auch führt das Erlernen einer Zweitsprache ohne fundierte Erstsprache zu schlechten Ergebnissen. Erwachsene Sprachvorbilder wären wichtig, weil „bei 90 Prozent der Kinder zu Hause keine ÖGS gesprochen wird“, weiß Krausneker. Die Zeit für Reformen wäre günstig: Derzeit liegt ein Begutachtungsentwurf zum Lehrplan für Gehörlosenschulen vor.

Auf 517 Seiten zeigen die ÖGS-kundigen Wissenschaftlerinnen in der vom Innovationszentrum der Universität Wien finanzierten Studie auf, dass derzeit kein offizielles Unterrichtsmaterial für Gebärdensprache existiert und gezählte drei ÖGS-Muttersprachlerinnen als Lehrerinnen im Einsatz sind. Die Analyse von sieben Bundesländern und vier Gehörlosenschulen (zwei verweigerten die Teilnahme) ergab zudem, dass sich einzelne Lehrer freiwillig engagieren, um bilinguale Unterrichtsformen (Deutsch/ÖGS) durchzuführen.

Zu wenige Dolmetscher

Die Uni Wien – als Beispiel für den tertiären Bildungssektor – hat einige Maßnahmen im Rahmen des Diversity Managements mit Unterstützung des Gehörlosenbunds und des Vereins Österreichischer Gehörloser Studenten (VÖGS) umgesetzt. Im Studierenden-Portal sind Videos in ÖGS abrufbar, die grundlegende Informationen zur Planung, Zulassung, Anmeldung vermitteln. An sämtliche Uni-Angehörige wurde ein Leitfaden versandt, „weil ja nicht Absicht, sondern oft Unwissen im Umgang mit Gehörlosen den Studienalltag erschwert“, so Schalber.

Derzeit studieren rund zehn ÖGS-Benützer an der Uni Wien, was sie interessiert: Molekularbiologie, Informatik oder Pädagogik – „und sind dabei fast immer der oder die einzige Gehörlose an einem Institut“, so Schalber. Drei dringende Maßnahmen zum Abbau von Barrieren macht Katharina Schalber fest: „Ausreichend Budget für ÖGS-Dolmetscher und Mitschreibhilfen – das bisher im Schnitt nur für ein bis zwei Lehrveranstaltungen pro Semester reicht, eine fundierte Begleitung der Studieneingangsphase, ÖGS als Prüfungssprache und die Einrichtung einer Dolmetschzentrale, die die Organisation erleichtert“.

Um die Forschung zum Thema ÖGS und Gehörlosigkeit ist es aufseiten der Studierenden in Wien gut bestellt und das Interesse an ÖGS-Kursen am Sprachenzentrum der Uni Wien ist groß. Als akademischer Schwerpunkt ist der Themenbereich jedoch nicht erkennbar. Eine Professur, wie sie Verena Krausneker derzeit am Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser der Uni Hamburg vertritt, gibt es in Österreich noch nicht. (Astrid Kuffner/DER STANDARD, Printausgabe, 23.1.2008)