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Der AGV (Automotrice Grande Vitesse) ist die neue Generation der High-Speed-Eisenbahnen. Bis zu 360 km/h legt die Bahn auf die Schienen.

Foto: Reuters
Paris - Die Schnauze ist langgezogener und weniger spitz, wenn man den neuen „AGV“ (Automotrice Grande Vitesse) mit den drei bisherigen TGV-Generationen vergleicht, die seit 1981 vor allem in Frankreich verkehren. Der Hauptunterschied ist unsichtbar: Die mächtigen Motoren sind nicht mehr am Anfang und Ende des Zugs angebracht, sondern in jedem Waggon unter den Sitzen der Passagiere. Diese technische Neuerung erlaubt es, die Schubkraft und damit die Geschwindigkeit weiter zu steigern – während der Energiebedarf insgesamt um 15 Prozent sinkt. Der schnellste TGV erreicht heute in der Champagne-Gegend 320 Kilometer pro Stunde; der AGV strebt hingegen eine Spitzenreisegeschwindigkeit von 360 km/h an.

Alstom-Präsident Patrick Kron wies beim "Rollout" des neuen Zuges in La Rochelle vor allem darauf hin, dass die Kosten für die Wartung und den Betrieb um rund ein Drittel tiefer lägen. Dies sollte sich auch auf die Reisekosten pro Passagier auswirken. Die größere Motorenstärke erlaubt es nämlich, bedeutend mehr Reisende auf einmal zu befördern: Wenn man drei Zugsformationen aneinanderkoppelt, können es bis zu 900 sein. Ein heutiger Doppelstock-TGV befördert höchstens 650 Personen, da er nur zwei Zugsformationen miteinander verbinden kann.

Die Liberalisierung des Bahn- und Güterverkehrs in der EU sorgt heute in ganz Westeuropa für einen Nachfrageschub. Zahlreiche Schwellenländer wie Indien oder Brasilien planen den Bau von Hochgeschwindigkeitsstrecken. In China sollen Peking und Schanghai per Superzug verbunden werden, in Kalifornien Los Angeles und San Francisco. Alstom, Siemens und die kanadische Bombardier stehen dabei in harter Konkurrenz zueinander. Die Franzosen haben unlängst den Zuschlag für die TGV-Strecken in Marokko und Argentinien sowie von Mailand nach Neapel erhalten. Einen der größten Aufträge hat bis zum Sommer die Deutsche Bahn zu vergeben. Und dabei will sie sich erstmals nicht auf Angebote von Siemens beschränken. Dieses Milliardengeschäft ist ein hochrangiges Politikum: Siemens wirft den Franzosen vor, sie schotteten den Heimmarkt ab und wollten in Deutschland den ICE-Nachfolger stellen. Alstom hat aber die Erneuerung der TGV-Flotte in Frankreich auch nicht mehr völlig sicher. Seine neue Hochgeschwindigkeitsgeneration musste der französische Konzern ohne SNCF konzipieren, die sich für die Zukunft ebenfalls alle Optionen offenhalten will.

Daher kann Alstom seinen neuen Zug auch nicht mehr "TGV" (Train à Grande Vitesse) nennen: Diese Markenbezeichnung gehört der französischen Bahn. Dass sie künftig auch Siemens in Anspruch nimmt, wäre für das protektionistische Frankreich eine gewaltige Revolution. (Stefan Brändle, Paris, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 07.02.2008)