Das war schon lange fällig, und die "Aula", das freiheitliche Magazin, hat sich der zeitgeschichtlichen Aufgabe mit gewohnter Wahrheitsliebe entledigt: Schluss mit den Umerziehungslügen - Richtigstellung des Monats, endlich die Wahrheit über das unbeschwerte Leben der Juden unter Hitlers Regime: Jazz im KZ - Musikleben in deutschen Konzentrationslagern.

Vor der Kulisse des Steinbruchs im ausgedienten KZ Mauthausen fanden - zum 60. Jahrestag des Baubeginns - spektakuläre Veranstaltungen statt. Es spielten die Wiener Philharmoniker Beethovens Neunte und Joe Zawinul seine Mauthausen-Kantate. Doch keiner der Schaulustigen, die zum lauten Zauber aufkreuzten, ahnte auch nur im leisesten, daß Musik längst in der Luft lag, als das Lager noch von Häftlingen belebt war.

Denn Mäzenatentum wurde damals großgeschrieben. Im August 1942 vergatterte SS-Gruppenführer Müller, genannt Gestapo-Müller, alle KZ-Kommandanten, in jedem Hauptlager eine Kapelle zu bilden. So kam es: Noch im Januar 1945 hieß man Himmler in Mauthausen mit dem Hochzeitsmarsch aus Wagners Lohengrin und mit dem Florentinermarsch von Julius Fucik willkommen, anläßlich einer noch späteren Visitation mit Suppés "Leichter Kavallerie" und Schuberts Unvollendeter, beides Lieblingsmelodien auch des Lagerkommandanten Franz Ziereis.

Der Kunstsinn der KZ-Kommandanten kannte schier keine Grenzen. Der Kommandant des Lagers Flossenbürg mutierte zum sanften Lamm, wenn ihm die Lager-Musik sein Lieblingslied "Warum hat die Eule so geheult?" zu Gehör brachte. Und das war noch lange nicht alles. Eines der erstaunlichsten Kapitel in den KZ aber war der Jazz. Tatsächlich wurde Häftlings-Jazz nicht nur geduldet, sondern sogar von SS-Angehörigen gern gehört. Die Bewacher ließ der offizielle Boykott kalt, die Häftlinge konnten "hotten", was die Saxophone hergaben. Und heute werden die Bewacher dafür als Übeltäter verunglimpft!

In Buchenwald jazzte eine 14köpfige Combo namens "Rhythmus". Duke Ellington, Cole Porter, Glenn Miller, W. C. Handy und Irving Berlin. Hinzu kamen Hits der Jazz-Genies von Louis Armstrong über Artie Shaw bis zu Fats Waller. Abgesehen von größeren Unterhaltungskonzerten in der Kinohalle wanderten die Jazzer in kleiner, wechselnder Besetzung von Block zu Block. Welch eine Idylle - ein Wunder, dass die Konzentrationslager nicht zu Jazzkellern verkamen, sondern dass noch Zeit für die Arbeit blieb, die definitiv frei machte.

Um jazzgerechte Arbeitseinteilung kümmerte sich der kommunistische Professor Herbert Weidlich, der seit 1942 in Buchenwald einsaß und sich um die Jazzpflege im KZ größte Verdienste erwarb. In Freiheit wäre er nur auf dumme Gedanken gekommen. Gepflegten Tschechen-Jazz hörte man in Mauthausen: Dort erwehrte sich der promovierte Blockfriseur Dr. Jaroslav Tobiásek erfolgreich der Rivalität des Dirigenten Rumbauer - Mauthausen muss damals ein wahres Jazzer-Paradies gewesen sein.

Selbst in Bistritz bei Beneschau, einem Klein-KZ südwestlich von Prag wurde Jazz zelebriert, aber auch in größeren KZ hatten Musikfreunde keinen Grund, sich vernachlässigt zu fühlen. In Auschwitz, wo die Swing-Combo "Die Fröhlichen Fünf" existierte, nahm SS-Unterscharführer Pery Broad (ein gebürtiger Brasilianer) Anteil am Jazzgeschehen. "War Broad besserer Laune, hörte er zu, wenn moderner Jazz gespielt wurde, oder nahm selbst daran teil, wobei er mit fachmännischer Leichtigkeit auf einem Multiregisterakkordeon swingte. Das wurde später nicht gewürdigt: Wegen Beihilfe zum Mord (bei schlechter Laune) verurteilt wurde der SS-Jazzfan im ersten Auschwitzprozeß in Frankfurt am Main. Antifaschistische Banausen!

Und erst Theresienstadt! Da gab es gleich zwei Kapellen. Unter der Ägide des begabten deutschjüdischen Pianisten Martin Roman fusionierten beide Bands, um fortan als "Ghetto Swingers" zu firmieren. Der renommierte Roman war aus rassischen Gründen von Berlin nach Amsterdam emigriert, landete dann aber doch aus rassischen Gründen erst im Holland-KZ Westerbork, von wo er nach Theresienstadt geholt - genauer engagiert - wurde.

Die Ghetto-Swingers jazzten auch im Film "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt". Die Bandmitglieder trugen einen blauen Blazer, der mit dem Davidstern geschmückt war. "Ist all das nicht ein Wunder?" fragte sich ein Kronzeuge des "Aula"-Autors Fred Duswald in seinem Tagebuch unter dem Eindruck des "Großen Festkonzerts" am 25. Juni 1944. "Der deutsche Soldat verliert den Kampf um sein Dasein im Westen, Süden und in Osteuropa, und die Juden, eingeschlossen in der Theresienstädter Atmosphäre, haben die Möglichkeit, Promenadenkonzerten ihrer Kapelle zuzuhören und dazu noch auf Befehl der deutschen Leitung unserer Siedlung."

Aber auch die längste Jazznacht hat ein Ende. Dem Saxophonisten Rudolf Dudák rettete sein Instrument das Leben, als ein US-Täter aus heiterem Himmel auf die "Opfer des Faschismus" schoß . Das Geschoß glitt ab. Zum Glück ist in einem KZ nie etwas Schlimmeres passiert. (Günter Traxler, DER STANDARD; Printausgabe, 16./17.2.2008)