Spagat zwischen Kunst und Kommerz? Oder: Wenn der Fußball beim Opernball ins politische Abseits gerät.

Foto: Ch. Fischer
Bunte Dressen, Fähnchen in Kinderhänden, und irgendwo rollt wieder irgendwer ein Stück Rasenimitat mit weißen Linien drauf aus. In der Staatsoper war's sogar die Compagnie des Hauses, die den ästhetisierenden Umgang mit fußballähnlichen Bildmotiven pflegte. Ob der Auftritt von TänzerInnen in Nationalfarben der einen oder der anderen Seite der Verbindung Erkenntnisgewinn verschafft, bleibt offen. Eher entweicht den Hybriden von Fußballkultur das, was sonst bestimmendes Element der Kunst wie des Sports ist: die Lust am Spiel.

Zweifel an einer solchen ästhetischen Praxis werden in Kauf genommen, geht es doch um die sprichwörtlich gute Sache. Wir erleben im Vorfeld der Europameisterschaft das Paradox einer zivilgesellschaftlichen Mobilmachung von "Leidenschaft". Sie deklariert die milde Verpflichtung zu etwas, wovon man bislang annehmen konnte, dass es sich spontan einstellt, die Emotionalisierung der Massen durch die Dramaturgie des Spiels.

Der Versuch einer solchen Orchestrierung kollektiver Emotion ersetzt weitgehend die öffentliche Debatte, wie eine Gesellschaft, eine Stadt in ihrer sozialen und kulturellen Vielfalt, den verschiedenen und bisweilen widerstreitenden Interessen, mit einem Ereignis wie der EM zum größten allgemeinen Nutzen umgehen kann. Wer gegenwärtig vom Fußball spricht, sollte etwa über Genderfragen nicht schweigen, erst recht nicht über Migration und die komplexe Struktur kultureller Identitäten in den Metropolen und Einwanderungsgesellschaften Europas. Das integrative Potenzial, das der Fußball als massenkulturelle Praxis entwickelt, wird vorausgesetzt, geht aber in seine Repräsentation rund um die EM nur bruchstückhaft ein.

Stimmen, Stimmung

Aus einer Vielfalt von Stimmen wird Stimmung. Warum aber muss diese von oben angeleitet werden? Hat doch zu allen Zeiten das Volk für sein Vergnügen selbst sorgen können. Dass das rotweißrote Team zu schwach sei, um die Massen hinter dem Ofen hervorzulocken, ist ein oft gehörtes Ammenmärchen. Nicht der Mangel an spontaner Emotion scheint Befürchtungen zu wecken, sondern ihr Übermaß. Es sind die Träger jener Massenkultur selbst, mit denen der Fußballbetrieb und sein Verwertungsinteresse über Kreuz gerät. Eine Schlüsselszene dieser nachgerade kopernikanischen Wende lässt sich auf YouTube betrachten. Man sieht den Bayern-Manager Hoeneß während der Generalversammlung vom Vorstandstisch aus wutschnaubend das Fußvolk zum Teufel schicken, jene Fans, die zwischen Allianzarena und VIP-Bereich Leidenschaft gerade vermissen.

Das symbolische Kapital derer, die die großen Fußballerzählungen seit den Ursprüngen im Industrieproletariat des ausgehenden 19. Jahrhunderts immer wieder erneuern und weitertragen, erfährt massive Entwertung. Unter der jewei- ligen Kaufkraftschwelle werden Fans zur Randgruppe in eigener Sache, als solche in wohlmeinen- den Projekten angeleitet und im öffentlichen Raum als potenzielle Störungsquelle überwacht. Die hochtechnisierte Gesellschaft nimmt die Spontaneität von Massen nur noch als Gefahr wahr.

Klage über den Kommerz

Fußball wird Kulturindustrie oder, wie Martin Wassermair in seinem Kommentar "Kunst am Ball?" (der Standard, 31. 1.) es nennt, Spektakel im Sinne Debords. Als Symptome nennt er die schrankenlose Kommerzialisierung des gesamten Fußballbetriebs, deren Affirmation durch KulturproduzentInnen und den Zuwachs an Überwachung und Bewegungseinschränkung im öffentlichen Raum. Dieser Sicht könnte man beitreten, predigte Wassermair damit nicht den Rückzug in idyllische Randlagen der Gesellschaft. Vom schnöden Kommerz solle man sich abwenden, "aufrichtige Ehrfurcht" vor der Faszination des "runden Leders" pflegen, der Kunst empfiehlt er die Bewahrung ihres utopischen Gehalts im Prekariat, wo sie offenbar wartet, bis sie der Auftrag der Obrigkeit zur Utopie ereilt. Die Klage über den Kommerz ist weniger politische Kritik als kleinbürgerlicher Moralismus, der sich die noch eigene Ohnmacht als Überlegenheit zurecht legt. Wenn die Sache, wie die Ökonomen behaupten, den allgemeinen Wohlstand kurzfristig hebt, warum soll nicht auch das Kunstfeld danach fragen?

Mit Debord und der Situationistischen Internationale (1957-72) ruft Wassermair zwar eine bedeutende Referenz der neueren Kunstgeschichte an, unterschlägt aber deren Konsequenz: die umfassende Politisierung der künstlerischen Praxis und die Überschreitung der Grenzen jener Reservate, die die bürgerliche Gesellschaft ihr setzt. Theorie und Praxis der Situationisten legen das repräsentationskritische Moment von Kunst frei, bis heute.

Das Spektakel ist nicht zu überbieten, aber es ist möglich, mit anderen formalen Mitteln eine andere Qualität von Sichtbarkeit zu erzeugen. Der politische Gehalt künstlerischer Praxis liegt in ihrem Vermögen, Repräsentation zu erweitern auf das, was nicht oder noch nicht repräsentiert ist. Im Anlassfall der EM-Vorbereitungen bleiben zwei einfache Fragen. Was fehlt, und wem nützt, was geschieht? Die Debatte darum ist spät dran, aber noch möglich. Es gibt keinen Grund, sie vor der Zeit abzupfeifen. Gesellschaft tut not, auch oder gerade beim Fußball. (Uwe Mattheiss, DER STANDARD/Printausgabe, 19.02.2008)