Völkerrechtliche Anmerkungen zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo.

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Nun also doch. Am vergangenen Sonntag verkündete die parlamentarische Versammlung des Kosovo die Unabhängigkeit des Landes von Serbien – bei gleichzeitiger Akzeptanz des Ahtisaari-Plans, demzufolge diese Unabhängigkeit auf unbestimmte Zeit eine im Wesentlichen von der EU überwachte sein wird. Inzwischen haben auch schon die ersten Staaten die „Republik Kosovo“ völkerrechtlich anerkannt; weitere Anerkennungen, auch jene Österreichs, sollen in den nächsten Tagen und Wochen folgen.

Nicht zukunftsfähig

Es steht außer Zweifel, dass damit die Kosovo-Statusfrage auf eine Weise gelöst wurde, die von der internationalen Gemeinschaft so ursprünglich nicht gewollt war. Da aber weder eine verhandelte Lösung noch (wegen des russischen Vetos) die Herbeiführung einer Entscheidung durch den UN-Sicherheitsrat zu erreichen war, verblieb die nunmehr gewählte Vorgangsweise letztlich als einzig realistische Option, um einen auf Dauer „eingefrorenen“ Konflikt innerhalb Europas zu verhindern. Immerhin hatte zuletzt selbst der Generalsekretär der Vereinten Nationen den bisherigen Status des Kosovo als serbische Provinz unter UN-Verwaltung als „nicht zukunftsfähig“ bezeichnet.

Stellt nun – jenseits der berühmten normativen Kraft der Fakten, die dadurch geschaffen wurden – die Verkündung der Unabhängigkeit des Kosovo tatsächlich einen völkerrechtswidrigen Akt dar, wie dies vor allem von Serbien und Russland geltend gemacht wird? Dazu ist zunächst festzuhalten, dass die Staatengemeinschaft der Behauptung eines völkerrechtlich anerkannten Sezessionsrechts in der Tat seit jeher distanziert gegenübersteht.

Kollektives Notwehrrecht

Ausnahmen werden unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht nur hinsichtlich jener Völker akzeptiert, die von Kolonialismus und ähnlichen Formen von Fremdbestimmung (zum Beispiel Okkupation) betroffen sind, sowie, nach jüngerer Auffassung, bezüglich solcher Völker, die von dem Staat, auf dessen Territorium sie innerhalb historischer Grenzen leben, systematisch unterdrückt werden. Das Sezessionsrecht erscheint in diesem Fall als ein kollektives Notwehrrecht, das jedoch nur als letztes Mittel, nach dem Scheitern aller sonstigen zumutbaren Versuche, zu einer Einigung mit der Zentralregierung zu kommen, in Anspruch genommen werden darf.

Nun wird zwar vielfach bejaht, dass auf Grund der massiven Unterdrückung durch das Miloševiæ-Regime zwischen 1989 und 1999 ein Sezessionsrecht der Kosovo-Albaner prinzipiell nicht ausgeschlossen werden kann.

Nach einer auch in Völkerrechtskreisen oft vertretenen Auffassung können sich aber weder die Kosovo-Albaner noch anerkennungswillige Drittstaaten auf dieses Recht berufen, da sich die für alle Staaten verbindliche und nach wie vor nicht aufgehobene Resolution 1244 des Sicherheitsrats aus 1999 ausdrücklich zur territorialen Integrität Serbiens bekennt und außerdem der politische Charakter des heutigen Serbien nicht mit jenem zur Zeit der Miloševiæ-Ära vergleichbar ist.

Übersehen wird dabei, dass Resolution 1244 zwar fraglos die territoriale Integrität Serbiens für die Dauer der UN-Verwaltung bestätigt, ansonsten aber eben diese Verwaltung ohne inhaltliche Einschränkung mit der Ermöglichung eines „politischen Prozesses zur Bestimmung des künftigen Status des Kosovo“ beauftragt, und zwar „unter Beachtung des Abkommens von Rambouillet“ vom Mai 1999. Gerade letzteres verwies jedoch zur finalen Lösung der Statusfrage unter anderem auf den Willen des betroffenen Volkes und die Meinungen aller relevanten (also auch der maßgeblichen internationalen) Akteure.

Die Wahl des Opfers

Schon insofern ist der Einwand, der Sicherheitsrat hätte mit der Resolution 1244 ein Sezessionsrecht der Kosovo-Albaner dauerhaft zurückgewiesen, nicht überzeugend, konnte doch an deren Unabhängigkeitswillen niemals ein Zweifel bestehen. Geht man zudem grundsätzlich von der Existenz dieses Rechts als Folge der 1999 vom Sicherheitsrat selbst als „humanitäre Tragödie“ bezeichneten serbischen Repression aus, so ist auch nicht anzunehmen, dass seine Geltendmachung durch den Sicherheitsrat auf Dauer vereitelt werden kann. Schließlich ist dieser bei der Ausübung seiner Befugnisse an die Grundsätze der UN-Charta gebunden, wozu auch und gerade das Selbstbestimmungsrecht der Völker gehört, das die staatliche Souveränität heute nach den erwähnten Maßstäben qualifiziert.

Ebenso wenig ist davon auszugehen, dass das Angebot weitreichender Autonomierechte durch Belgrad zwingend zum Erlöschen des im Zuge der Ereignisse der 1990er-Jahre entstandenen Sezessionsrechts der Kosovo-Albaner führt. Letztlich muss es hier dem Opfer der damaligen Unterdrückung überlassen sein, dieses Angebot anzunehmen oder – mit Hinweis auf das endgültig zerstörte Vertrauen gegenüber jenem Staat, dem (ungeachtet eines inzwischen erfolgten Regimewechsels) die betreffenden Verbrechen zuzurechnen sind – abzulehnen. Dies gilt umso mehr, wenn die UNO durch die Einrichtung einer internationalen Verwaltung und den Aufbau staatsähnlicher Strukturen bereits eine praktisch unumkehrbare De-facto-Trennung veranlasst und damit in der Bevölkerung eine eindeutige Erwartungshaltung im Hinblick auf den künftigen Status evoziert hat.

Die Unabhängigkeit des Kosovo lässt sich unter diesen Gesichtspunkten völkerrechtlich durchaus begründen, wenngleich zuzugeben ist, dass hier völkerrechtlich weitestgehend Neuland betreten wird.

Wird dadurch ein Präzedenzfall geschaffen? In gewisser Weise ja – man sollte das gar nicht bestreiten. Jedoch müssen die Anforderungen an die Zuerkennung eines Rechts auf äußere Selbstbestimmung durch Sezession außerhalb klassischer Kolonialsituationen penibel beachtet werden. Das Völkerrecht akzeptiert ein solches Recht lediglich als Ultima Ratio, wenn –

  • der Sezessionswunsch eines Volkes seinen Ursprung in dessen massiver und dauerhafter Unterdrückung durch den Zentralstaat hat, wobei die diesbezügliche Beurteilung nicht dem Volk allein, sondern auch der internationalen Gemeinschaft obliegt;

  • diesem Volk, gerade wegen der in jüngster Vergangenheit begangenen Verbrechen des Zentralstaats, nicht mehr zugemutet werden kann, sich mit einer Form interner Selbstbestimmung innerhalb dieses Staates zufriedenzugeben;

  • das Volk auf einem geschlossenen Gebiet innerhalb historisch herleitbarer Grenzen ansässig ist;

  • der Wunsch nach Unabhängigkeit von einer Mehrheit des Volkes unterstützt wird, sowie

  • der neu entstehende Staat ausreichend Gewähr dafür bietet, dass er sich unter voller Achtung der Rechte anderer auf seinem Gebiet ansässiger Volksgruppen als friedliches Mitglied in die Staatengemeinschaft einordnen wird. (DER STANDARD, Printausgabe, 20.2.2008)