Lew Gudkow ist Leiter des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum in Moskau.

Zur Person
Die russische Gesellschaft hat sich seit dem Ende der Sowjetunion kaum verändert. Deshalb bleiben Wahlen ein Ritual ohne Konsequenzen, sagt der renommierte Meinungsforscher Lew Gudkow im Gespräch mit Klaus-Helge Donath.

***

STANDARD: Russland geht wählen, der Sieger steht fest. Gibt es vielleicht doch noch ein spannendes Detail?

Gudkow: Einzig spannende Frage ist, wie hoch der Sieg des Kreml-Kandidaten Medwedew ausfällt. Werden 70 Prozent oder, wie aus unseren Umfragen hervorgeht, gar 80 Prozent für ihn stimmen? Wenn der Nachfolger besser als sein Vorbild und Ziehvater Putin abschneidet, sähe das etwas seltsam aus.

STANDARD: Eine beängstigende Einmütigkeit …

Gudkow: Medwedew ist ein Geschöpf Putins. Von ihm wird nichts anderes erwartet, als dass er dessen Kurs fortsetzt. Medwedew gefällt aber auch. Er macht einen intelligenten Eindruck, ist erfahren und strahlt Energie aus. Viel wichtiger aber ist: Das Wahlverhalten offenbart die Angst der Bürger vor einer Krise, sie verbinden mit der Wahl keine Hoffnung auf Veränderung oder Verbesserung. Daher nehmen sie Manipulationen im Vorfeld auch gelassen hin.

STANDARD: Können 80 Prozent der Wähler überhaupt die gleichen Motive haben?

Gudkow: Die gut verdienende, besser organisierte und informierte Minderheit hält zu Putin, obwohl sie mit den autoritären Tendenzen, der verschärften Wirtschaftskontrolle und der Medienzensur nicht einverstanden ist. Rund zwei Drittel der Bevölkerung leben auf dem Land, in der chronisch depressiven Provinz. Dort gibt es keine Aussicht auf Besserung, daher richten die Wähler alle Hoffnungen auf die Zentrale. Je schlechter die soziale Lage, desto größer die Erwartungen an den Kreml. Paradox: Die soziale Unzufriedenheit konserviert das autoritäre Modell.

STANDARD: Die Wahlen sind eine Farce. Wäre es da nicht glaubwürdiger, ganz auf sie zu verzichten?

Gudkow: Wählen hat in Russland eine andere Funktion als im Westen. Der Sinn besteht nicht im politischen Wettbewerb, sondern in der Akklamation jener Gruppierung, die sich gerade an der Macht befindet. Kurz: eine rituelle Bezeugung von Solidarität. Statt mit Visionen zu ködern, wird breitflächig diskreditiert: die Opposition, der Westen, die Tschetschenen. Immer neue Sündenböcke tauchen auf.

STANDARD: Warum verfängt diese negative Mobilisierung?

Gudkow: Der Gesellschaft wird eingeimpft, weder Moral noch Ideale zählten, Interessen beherrschten alles. Das ist eine Reaktion auf Enttäuschungen der Vergangenheit: den Zerfall der UdSSR, den Untergang der sowjetischen Utopie und das Scheitern der demokratischen Reformen in den 1990er-Jahren. Aus dem Gefühl des Betrogenseins hat sich ein kollektiver Zynismus entwickelt, der vor nichts haltmacht. Das erklärt Putins unglaubliche Popularität, und warum er als guter Zar idealisiert wird. Er ist die einzige Ausnahme in diesem Umfeld der Niedertracht.

STANDARD: Der Teflon-Putin. Überträgt sich das Phänomen auf Medwedew?

Gudkow: Ich denke schon. Der Kandidat imitiert Putin in Wort, Gestik und Intonation, als wäre er nach dem Ideal Putin geklont. Sie unterscheiden sich auch gar nicht so sehr. Im Moment teilen sie sich die Rollen: Putin übernimmt den Part des „bad cop“, Medwedjew gibt den guten. Putin beherrscht aber auch beide Tonlagen. Übrigens, Medwedew kommt bei den Frauen gut an, sie stellen 59 Prozent seiner Wähler.

STANDARD: Staat und Gesellschaft führen ein Eigenleben. Die Entfremdung hat in den letzten Jahren zugenommen. Dennoch schwappt eine Welle des Patriotismus über Russland …

Gudkow: Deswegen ist aber niemand bereit, dem Staat auch zu dienen. Das Bekenntnis ist rein deklarativ. Dem Sowjetmenschen erlaubte diese Doppelmoral, sich anzupassen und zu überleben. Eine Fähigkeit, die er sich bewahrt hat.

STANDARD: Hat wenigstens die Jugend noch Ideale?

Gudkow: Die Jugend ist apolitisch und auch nicht bereit, sich gesellschaftlich zu engagieren. Die jungen Leute gehören zu den überzeugtesten Anhängern Putins. Wenn sie wählen, geben sie konservativen oder antidemokratischen Kräften ihre Stimme.

STANDARD: Der Geheimdienst hat in der Ära Putin Russland unter sich aufgeteilt. Reagieren die Bürger darauf nicht beunruhigt?

Gudkow: Die Mehrheit ist gleichgültig. Zehn bis fünfzehn Prozent fühlen sich unwohl.

STANDARD: Es klingt so, als hätte sich die Psychologie des Bürgers seit dem Zusammenbruch der UdSSR kaum verändert.

Gudkow: Der sowjetische Typ ist erstaunlich resistent. Er hat gelernt, mit der Obrigkeit zu leben. Einmal betrügt er sie, dann wieder baut er auf ihre Hilfe. Über Alternativen denkt er nicht nach. Dieser Mehrheitstyp ist ein auf Anpassung geeichter Zyniker, der sich allen Realitäten unterwirft und dies für die Norm hält. Zu Solidarität und öffentlicher Aktivität ist er nicht fähig, und er kann auch seine eigenen Interessen nicht verteidigen. Das fördert Korruption, schraubt Ansprüche herunter und blockiert die Vision einer anderen Zukunft.

STANDARD: Wie soll der Westen auf die Wahl am Sonntag reagieren?

Gudkow: Wir wollen keine Einmischung. Es wäre aber wünschenswert, wenn Politik und westliche Öffentlichkeit klar Stellung bezögen. Bisher dominiert ein pragmatischer Zynismus: Russland habe eben keine demokratischen Traditionen. Klar, es geht um Öl und Gas. Ich bezweifle jedoch, dass man sie durch Verzicht auf moralische Eindeutigkeit erkaufen muss. (DER STANDARD, Printausgabe, 28.2.2008)