Schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen in Deutschland leiden an Computerspielsucht. Die in ihrer übergroßen Mehrheit jungen und männlichen Spieler sind gefangen in der virtuellen Realität komplexer Rollenspiele im Internet. Psychologen warnen vor Folgen ähnlich wie bei Alkohol- oder Drogensucht. An der Uniklinik Mainz hat nun die bundesweit erste Ambulanz zur Behandlung von Internetsüchtigen die Arbeit aufgenommen.

"Wir haben seit einem Jahr keinen Kontakt mehr zu ihm"

Für Christoph Hirte ist der Kampf um seinen 23-jährigen Sohn wahrscheinlich verloren. "Wir haben seit einem Jahr keinen Kontakt mehr zu ihm", sagt Hirte. Die Familie habe den Informatik-Studenten an das Spiel "World of Warcraft" verloren. "Es ist nicht zu glauben, wie viel Leid diese Spiele in die Familien bringen", so der Vorsitzende einer Elterninitiative aus dem bayerischen Gräfelfing: "Die Betroffenen müssen erkennen, dass sie kein Hobby ausüben, sondern krank sind."

Kontakt

Als Spieletester sei sein Sohn mit dem komplexen Rollenspiel in Kontakt gekommen und offenbar immer mehr in den Bann der virtuellen Realität geraten. Der junge Mann, der an einer nordrhein-westfälischen Hochschule studierte, habe sich immer mehr zurück gezogen, sei für die Eltern telefonisch nicht mehr erreichbar gewesen, habe schließlich sein Studium aufgegeben und Sozialhilfe beantragt. Als Christoph Hirte und seine Frau Christine schließlich versuchen einzugreifen, sei es bereits zu spät. Ihr Sohn habe sich allen Hilfsangeboten entzogen, sagt Hirte.

Die Erforschung von Internet- und Computerspielsucht steckt noch in den Kinderschuhen. "Die Verläufe der Sucht, die möglichen Risikofaktoren sind noch ungeklärt", sagt Manfred Beutel, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin an der Mainzer Uniklinik. Doch das Problem nimmt rasant zu. "Bei uns häufen sich die Anfragen von Eltern und zum Teil auch von Betroffenen", erklärt Beutel. Die Mainzer Forscher schätzen, dass drei bis vier Prozent aller männlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen an Computersucht leiden.

"Das hat ganz gravierende gesundheitliche Auswirkungen."

Dabei treten ähnliche Symptome auf wie bei Menschen, die von Alkohol, Cannabis oder Tabletten abhängig sind. Die Betroffenen hätten ein ständiges Verlangen zu spielen, und die Spielzeiten würden immer länger, erklärt der Klinikdirektor. Werde der Betroffene vom Computer ferngehalten, träten typische Entzugserscheinungen wie Aggressivität, Nervosität und Unruhe auf. Auch vernachlässigten die Süchtigen Ernährung und Hygiene, betont Beutel: "Das hat ganz gravierende gesundheitliche Auswirkungen."

Nach Einschätzung des Psychologen Klaus Wölfling, der die Mainzer Computerambulanz leitet, ist für das neue Massenphänomen vor allem das Aufkommen immer realitätsnäher angelegter Spielwelten im Internet verantwortlich. Als besonderen Suchtfaktor bezeichnen die Mainzer Forscher den Umstand, dass Rollenspiele wie "World of Warcraft", "Everquest" oder "Ultima Online" kein Spielende kennen. Wie auch im echten Leben entwickelten sich soziale Bindungen und Pflichten immer weiter. Fortschritte im Spiel seien nur durch hohen zeitlichen Einsatz zu erzielen. So werde einer exzessiven Nutzung Vorschub geleistet.

"Die reale Welt verliert im Verlauf der Abhängigkeitsentwicklung mehr und mehr an Attraktivität gegenüber dem virtuellen Universum."

Im Gegenzug neigen süchtige Spieler dazu, sich immer weniger mit den Problemen ihrer wirklichen Umgebung auseinanderzusetzen, erklärt Wölfling: "Die reale Welt verliert im Verlauf der Abhängigkeitsentwicklung mehr und mehr an Attraktivität gegenüber dem virtuellen Universum." Nach Einschätzung des Mainzer Psychologen zieht sich die Internetsucht quer durch alle sozialen Schichten. Zu 85 Prozent seien männliche Jugendliche und junge Männer betroffen.

In der bundesweit ersten Ambulanz für Internet- und Computerspielsucht wollen die Psychologen die Betroffenen kombiniert in Gruppen- und Einzelgesprächen therapieren. Rund 150 Patienten könnten pro Jahr behandelt werden. In der Therapie wollen die Wissenschaftler die Betroffenen dazu bringen, die Nutzung von Computer und Internet wieder auf ein Normalmaß zu reduzieren, erklärt Wölfling: "Eine komplette Abstinenz wäre undenkbar in unserer heutigen Zeit." (APA)