Die Übertragung des Funktionsparadigmas der Familie auf öffentliche Felder kann fatal sein. Politiker sind keine Eltern, die sich der Kinder wegen vertragen sollen. Die Metapher "Familie" macht undemokratische Verhältnisse gesellschaftsfähig.

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Journalisten vergleichen die Regierungskoalition gerne mit einer Ehe. Selbst die Zeit titelt am 28. Februar: "Gefährliche Liebschaften" und spricht vom "Seitensprung" der SPD mit der Linken. In diesem Sinne lauern Redakteure ständig auf Koalitionskrachs. Die Familienmetapher tritt uns auch in politischen Parolen ständig entgegen. Die nahe persönliche Beziehung gilt für die Politik als maßgeblich. Und sie sollte auch noch harmonisch sein. Es sei an die Etymologie erinnert, Famulus lat. ist der Diener, familia, die Gesamtheit der Dienerschaft.

Die Beschwörung familiärer Harmonie in öffentlichen/politischen Belangen ist allerdings fehl am Platze und gefährlich.

  • Demokratien sind Gesellschaften des "gehegten Konflikts". Nicht Konsens ist ihre Grundlage, sondern die Inszenierung von Dissens. Konsens sollte an die Zustimmung der eigenen Vernunft gebunden sein und nicht an persönliche Loyalitäten oder an das Bedürfnis nach innerem oder äußerem Frieden.

  • Politiker sind keine Eltern, die sich vertragen sollen, damit sich die Kinder auskennen und nicht selbstständig denken lernen müssen.

    Die Familienmetapher weckt regressive Bedürfnisse (Bedürfnisse nach Liebe, Abhängigkeit, Versorgtwerden, Dominanz, Allmacht, heiliger Ordnung, Eindeutigkeit, Beständigkeit, ...) und die Illusion, dass diese in politischen Institutionen befriedigt werden könnten.

  • Die Familienmetapher macht undemokratische Verhältnisse – eingeborene, unveränderliche Rollen, Machtgefälle ohne sachliche Legitimationspflicht, Geschlechterhierarchie – gesellschaftsfähig.

  • Sie legt private Strategien der Problem- und Konfliktlösung nahe, die im öffentlichen Feld mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern.

    Die Familie weist eine ständische Struktur auf. Macht, Wirkungsschwerpunkt (privat-öffentlich), Lebenslagen, Rollen der Mitglieder sind qua Geburt zugewiesen. Es herrscht eine kollektive Gemeinschaftlichkeit. Positionen sind nicht aushandelbar, nicht umkehrbar. Aufgrund persönlicher Abhängigkeit – ökonomisch, emotional, existenziell – sind Beziehungen nicht ohne große Verletzungen aufkündbar. Macht ist sachlich nicht legitimationsbedürftig.

    Wahnkriterien der Liebe

    Das gesamte Ungleichverhältnis ist nicht aufgeklärt, sondern bemäntelt mit den Zärtlichkeits- und Antieinsamkeitsversprechen der Liebe. Liebe verschleiert und verschärft die Ungleichheitsschicksale. Liebe macht blind. Mein Lehrer, der Psychologe Walter Spiel, hat immer betont: "Die Liebe entspricht allen drei Wahnkriterien (im psychiatrischen Sinn): Irrealität, subjektive Gewissheit, Unkorrigierbarkeit." Liebe kennt keine Gnade, setzt Schwüre und Verträge außer Kraft. Nicht mehr, nicht genug oder falsch Geliebte können ihr 'Recht' nirgendwo einklagen.

    Entsprechend unaufgeklärt und wenig zivilisiert sind Verhaltensweisen, die durch Liebe motiviert sind, besonders da, wo die Liebe in die Krise gerät – durch Forderungen nach Freiheit und Gleichheit etwa. Machtmissbrauch liegt nahe, gefördert durch Privatheit, Intimität und Abhängigkeit. Und wird, selbst wenn strafrechtlich relevante Tatbestände vorliegen, selten öffentlich geahndet – "Wir werden keinen Richter brauchen."

    Archaische Konfliktaustragung

    Konfliktaustragung erfolgt in der Familie entsprechend häufig archaisch, martialisch. Wie jedes elementare Gefühl ist die Liebe ambivalent, schlägt leicht um in Hass. Psychische oder körperliche Gewalt, die aus Liebe erfolgt, stößt auf große Toleranz und auf Faszination – die Weltliteratur lebt davon.

    Aus Liebe zu töten, erweist sich in der Öffentlichkeit als vergleichsweise wenig ehrenrührig und kann vor Gericht auf Gnade treffen, eventuell allerdings unter den bekannten Bedingungen der Geschlechterdiskriminierung.

    Meine Befunde über die Familie fallen tendenziös aus. Nicht weil ich damit die Familie und die Liebe diskreditieren möchte, sondern weil ich aufzeigen will, dass die Übertragung des Organisations- und Funktionsparadigmas der Familie auf öffentliche Felder fatal sein kann.

    Gleichgültiger Staat

    Die Bürden der Vernunft erschöpfen das Individuum und wecken das Verlangen nach Kompensation und Abwechslung. Menschen werden immer Räume zur Regression brauchen, für unaufgeklärte Gefühle und Beziehungen. Das sollten aber nicht die politischen Räume sein. Je primitiver unsere Bedürfnisse, desto drängender sind sie. Im selben Maß schwindet unsere Kreativität und wir werden manipulierbar. Das macht regressionsfördernde Inszenierungen so gefährlich.

    Wo kindliche Bedürfnisse geweckt werden, verengt sich unser Repertoire im Denken und Handeln. Das fängt schon in Unternehmen an. Illusionen der heimeligen Zugehörigkeit, wie sie durch das Phantasma einer Corporate Identity heraufbeschworen werden, stehen z.B. der elementaren Erkenntnis im Wege, dass das Kapital oder auch der Staat der Arbeitskraft als individueller Person prinzipiell gleichgültig gegenübersteht.

    Verlockend

    Das heißt: Es geht nie um den konkreten Menschen als ganzen, sondern immer nur um Teilaspekte seiner Person, die sich für den organisationslogischen Zweck verwerten lassen. Die Aufhebung der Entfremdung des Individuums durch Illusionsbildung ist zwar verlockend, liegt aber letztlich nicht in dessen Interesse. Taugliche Problemlösestrategien können nicht unter Leugnung der Realität entwickelt werden, mag die Realität auch noch so hart sein. Schule, Arbeit und öffentliches Feld erfordern Menschen, die ihre Interessen selbstständig vertreten können, gegebenenfalls gegen Autoritäten und Herrschaft.

    Aggression verschoben

    In der emotionalen und mentalen Disposition, die sich unter dem Phantasma Familie breitmacht, kann aber etwa ein angestrebter 'Tyrannenmord' nur zum 'Vatermord' verkommen. Meistens wird es aber gar nicht so weit kommen. Der Befreiungsimpuls wird zielgehemmt, die Aggression wird verdrängt oder sonstwie verschoben, ihre destruktive Wirkung am falschen Platz entfaltet.

    Auf allen Linien führt das Phantasma Familie im öffentlichen Feld auf die falsche Fährte und wirkt insofern herrschaftsstabilisierend, als private Selbstbehauptungsstrategien in der res publica scheitern müssen. Die Steuerungsprinzipien in den beiden Feldern sind konträr. Motivationssysteme und Kommunikationsstrukturen sind im öffentlichen Feld notwendig durch ein hohes Maß an Abstraktheit, Mittelbarkeit und – idealtypisch – durch Rationalität ausgezeichnet. Es waltet zwar vor allem bloß Zweckrationalität, geleitet durch Machtinteressen, diese sind allerdings prinzipiell legitimationspflichtig.

    Rationalität bleibt ausgespart

    Die Familie wird im Gegensatz zu öffentlichen Systemen in konkreter Verbundenheit gesteuert, auf der Grundlage unmittelbarer Bedürfnisse und Emotionen. Rationalität im Sinne argumentativer Aushandlungsprozesse bleibt wegen persönlicher Abhängigkeiten weitgehend ausgespart.

    Die Familienmetapher verleitet nun zum Bemühen, Probleme im öffentlichen Feld auf persönlicher Ebene anzugehen, bei sich selbst anzufangen und sich höchstens in Zweierkonflikten oder Kleingruppenstreitereien zu verzetteln. Das verhindert die Analyse komplexer Zusammenhänge, strategisches Denken und Handeln sowie den Zusammenschluss zu größeren Interessensgemeinschaften. International organisiert und erfolgreich bleiben so auch in Zukunft nur Kapital und Verbrechen. (Eva Novotny, DER STANDARD, Printausgabe 6.3.2008)