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Forensiker durchsuchen seit mehr als einer Woche das ehemalige Kinderheim auf der Insel Jersey, sie fördern immer mehr Knochenteile zutage, die auf die Ermordung von Zöglingen hinweisen

Foto: Pool/ Getty Images

Sebastian Borger aus St. Helier

Um zu spüren, wie aufgewühlt die Menschen auf Jersey sind, muss man nur zehn Minuten mit Stuart Syvret auf einer Bank am Royal Square in St. Helier sitzen. Fünf Passanten stürzen in dieser Zeit auf den Senator zu. Vier wollen dem Mitglied des Inselparlaments die Hand geben, wünschen ihm Glück.

"Sie verkörpern das Gute unserer Insel", sagt ein Herr im Nadelstreifanzug. Da wird das 42-jährige Mitglied der Grünen fast verlegen. Mit der einzigen Kontrahentin, einer eleganten Dame, lässt sich Syvret auf einen Streit ein. Sie will ihren Frust loswerden: "Sie folgen doch nur Ihren politischen Ambitionen", giftet sie ihn an, "Sie ruinieren unseren Ruf."

Fragment eines Kinderschädels

Die größte der malerischen Kanalinseln befindet sich in heller Aufregung, seit vor zehn Tagen ein Leichenhund in dem früheren Kinderheim Haut de la Garenne nahe der Ortschaft Gorey ein Fragment eines Kinderschädels fand; Resultat einer bereits mehr als 15 Monate dauernden Untersuchung der Kriminalpolizei. Schlagartig richtete sich die Aufmerksamkeit der Medien auf das 1867 als Schule "für junge Menschen der unteren Klassen sowie vernachlässigte Kinder" erbaute Haus, das bis 1986 Jerseys ungeliebten Nachwuchs beherbergte.

160 Zeugenaussagen

Zu Beginn dieser Woche wurden weitere Knochenteile entdeckt. Die Sonderkommission hat Namen von mehr als 40 Beschuldigten, gestützt auf 160 Zeugenaussagen. Die Rede ist von schwersten Straftaten, von Kindesmisshandlung, Vergewaltigung und Mord. Ein 76-Jähriger ist bereits angeklagt.

Missbrauch öffentlich gemacht

Stuart Syvret wurde im vergangenen Jahr als Leiter der Sozialbehörde gefeuert, weil er Kindesmissbrauch in staatlichen Institutionen öffentlich gemacht hatte. Jetzt klagt er die Elite der Insel an: Regierung und Behörden seien "nur an ihrem Image interessiert, nicht an den Opfern". Die Polizei mache ihre Arbeit "ganz toll", aber klar sei auch: "Wenn die nicht von außen gekommen wären, gäbe es bis heute keine Untersuchung. Zu viel Macht auf Jersey ist in zu wenigen Händen konzentriert."

Keine Machtbalance

Dafür gibt es, vorsichtig ausgedrückt, Indizien. Frank Walker, der Regierungschef, war bis zu seinem Amtsantritt Verleger der Jerseyer Monopolzeitung, seine Frau arbeitet als Nachrichtensprecherin beim regionalen Sender der BBC. Der Parlamentspräsident dient gleichzeitig als oberster Richter; sein Bruder bekleidet den Posten des höchsten Anklägers. Die von rund 90.000 Menschen bewohnte Insel leide an "einem viel zu engen System, in dem es keine Machtbalance gibt", glaubt der englische Labour-Abgeordnete Austin Mitchell.

Politiker beschuldigt

Ein 1974 verstorbenes Regierungsmitglied wird nun öffentlich als Vergewaltiger beschuldigt. Auch zu den noch lebenden Verdächtigen "gehören Leute aus dem Establishment", hat Polizeichef Graham Power gesagt. Power selbst, sein Vize und Leiter der Sonderkommission, Lenny Harper, sowie die Abteilungsleiterin für Sexualverbrechen stammen allesamt nicht aus Jersey. Bei der Analyse eines Missbrauchsskandals in der feinsten Privatschule der Insel stießen die Beamten auf Verbindungen zu Haut de la Garenne sowie anderen Kinderheimen, auch auf der Nachbarinsel Guernsey.

Fußfesseln und eine große Wanne

Im ersten Kellerraum des Heims auf Jersey fanden die Beamten genau jene Details, die von Zeugen genannt wurden: Fußfesseln und eine große Wanne, in der Kinder in eiskaltem Wasser baden mussten.

Kinder verschwinden nicht so einfach

"Verliese nennt die Zeitung das, so etwas Blödes", erregt sich der 60-jährige Hobbyhistoriker John Poingdestre. "Kellerräume sind das, wie in alten Gebäuden üblich." Poingdestre erinnert sich daran, wie er Anfang der Sechzigerjahre einen Schulfreund in Haut de la Garenne besuchte. "Der wusste sich zu wehren." Ihm sei nichts aufgefallen. Dass es auch zu Sexualstraftaten kam, glaubt Poingdestre; nur Mord mag er sich nicht vorstellen. "Kinder verschwinden nicht so einfach, nicht einmal in Haut de la Garenne." Über die Jahrzehnte seien viele der Insassen in der britischen Armee gelandet. "Das waren schon immer die Nigger der Insel", sagt Poingdestre.

Ob den Schwächsten der Gesellschaft wenigstens im Nachhinein Gerechtigkeit widerfährt? Die Grabungen im Haus könnten noch wochenlang dauern. Und erst wenn genug Beweismaterial vorliegt, beginnen die Verhöre der Beschuldigten. (Sebastian Borger aus St. Helier/DER STANDARD Printausgabe 6.3.2008)