Bild nicht mehr verfügbar.

Homer war für Raoul Schrott kein blinder Sänger, sondern ein womöglich kastrierter Schreiber. Im Hintergrund: Buchdruck-Erfinder Gutenberg.

Foto: EPA/Frank May
"Ich bin kein Gräzist und kein Assyrologe. Aber blöd bin ich auch nicht." Der das von sich so entwaffnend offenherzig behauptet, heißt Raoul Schrott und hat immerhin eine Habilitation in Vergleichender Literaturwissenschaft an der Universität Innsbruck vorzuweisen. Hauptberuflich ist der 44-Jährige eigentlich Schriftsteller und Übersetzer mit einem beeindruckenden Œuvre, das eine Geschichte der Poesie über 4000 Jahre ebenso umfasst wie Studien über Dada, Gedichtbände ebenso wie einen Großroman ( Tristan da Cunha ). Die Sprachen, aus denen er übersetzt hat, gehen in die Dutzenden.

Nun behauptet der polyglotte Doctor poeticus nichts Geringeres, als ein völlig neues Licht auf Homer und dessen Epos Ilias werfen, ja, einen Paradigmenwechsel in der Homer-Forschung auslösen zu können. "Homers Geheimnis ist gelüftet", titelte die FAZ kurz vor Weihnachten. Und räumte dem Privatgelehrten im Feuilleton gleich vier ganze Seiten frei, um seine Thesen über Homer, Troja und die Ilias auszubreiten.Dieser Tage erscheint die Langfassung dieses Essays: Homers Heimat, Untertitel: Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe.

Geplant sei das mehr als vierhundertseitige Werk nicht gewesen, meint der Autor in seinem manchmal mehr, manchmal weniger tirolerisch eingefärbten Deutsch. Denn eigentlich wollte er nur ein Vorwort zu seiner Neuübersetzung der Ilias schreiben. Und die wiederum – eine Auftragsarbeit des Hessischen Rundfunks – hätte eigentlich vor allem dazu dienen sollen, so nebenbei Geld für die Arbeit am nächsten Roman zu verdienen. Doch die Neuübersetzung des 600-Seiten-Werks, die erst im Herbst erscheinen wird, sei zu einem mehr als zwei Jahre langen "Dienst an der Lanze" geworden. "Und dann kamen eben noch rund 5000 Stunden, die ich mich wissenschaftlich mit dem Thema befasst habe, zwölf bis vierzehn Stunden am Tag."

Auffällige Parallelen

Ausgangspunkt für die Spurensuche zur Identität Homers seien die auffälligen Parallelen zwischen der Ilias und dem Gilgamesch gewesen, die dem Übersetzer beider Epen ins Auge stachen. "Da stellte sich die Frage, wo und wie Homer zu den assyrischen Keilschrifttexten kam." Schrott wandte sich an den Innsbrucker Althistoriker und Assyrologen Robert Rollinger, der bereits Schrotts Übertragung des Gilgamesch betreut hatte. Und der gab ihm einen Tipp: Kilikien.

Das liegt heute in der Südtürkei, unmittelbar vor Zypern, und umfasst in etwa die heutigen Provinzen Adana und Mersin. "Erst in den letzten drei, vier Jahren sind die ersten richtigen Bücher über Kilikien erschienen. Und das Erste, was mir bei deren Lektüre auffiel, war die Topografie, die perfekt auf die Beschreibungen in der Ilias passt", sagt Schrott. Und je mehr er sich mit der Literatur beschäftigte, desto mehr Querverweise zum Epos tauchten auf. In Homers Heimat hat er sie alle zusammengetragen, so gut er konnte. Kritiker haben das mehr als 400-seitige Opus vorab als "historischen Roman" bezeichnet. Tatsächlich ist das Buch auch der Form nach als wissenschaftliche Studie angelegt, die mit ihren 26 Kapiteln von A bis Z, einem umfangreichen Bildteil mit Fotobeweisen und vor allem den rund 1400 Fußnoten, die gerade nicht im Anhang versteckt sind, auch die Fachgelehrten beeindrucken und überzeugen will.

Was glaubt nun Schrott zu wissen? Und wie ist seine kilikische These begründet? Schrotts Homer musste mehrere Sprachen gekonnt und Zugang zu einem Archiv gehabt haben. Denn nur das könne erklären, warum sich in der Ilias so große Parallelen zum Gilgamesch, zugleich aber auch zum Alten Testament finden ließen und genaue Kenntnis der damals rezenten Aufstände. Das alles lege es nahe, dass er um 705 vor unserer Zeit eben in Kilikien gelebt haben muss.

Jedenfalls sei er kein blinder Sänger aus einer der griechischen Kolonien in Kleinasien gewesen, sondern ein griechischer Schreiber entweder im Dienste der assyrischen Machthaber oder der Kilikier. Ins Spekulative geht seine Behauptung, dass er womöglich kastriert war, das ist auch Schrott klar.

In seiner Deutung zog Homer die Schlacht um Troja, der sich 600 Jahre früher zugetragen hat, in der Ilias dafür heran, das Land und die Geschichte Kilikiens unter besonderer Berücksichtigung der zeitgenössischen Konflikte mit den Assyrern in eine epische Form zu bringen. Nicht viel anders, wie das im Mittelalter Gottfried von Straßburg mit der bretonischen Tristan-Sage getan habe.

"Es ist alles schlüssig"

Das Troja, das Homer laut Schrott vor Augen stand, war die Stadt Karatepe mit ihrem Burgberg und der sie umgebenden kilikischen Landschaft, was Schrott an zahllosen Detailbeschreibungen der Topografie und der Architektur in der Ilias festmacht. "Es ist wirklich alles schlüssig", sagt Schrott mit seinem ansteckenden Enthusiasmus. Und nein, er sei natürlich nicht vom kilikischen Tourismusverband gesponsert.

"Der gesamte kilikische Hintergrund löst einfach schlüssig alle Probleme, die die Homer-Forschung bisher hatte." Begeistert folgen mehrminütige Fachexkurse über Details der historischen Waffentechnik, die hippie-eske Langhaarigkeit der Griechen und ihr Schuhwerk auf. Unschuldige Nachfrage zwischendurch: "Hab ich euch jetzt zugequatscht?"

Mit uns kann man es ja machen. Anders sieht es bei den Fachleuten der betroffenen Altertumswissenschaften aus. Und da gab es bereits vor der Veröffentlichung des Buches das ganze Spektrum an Reaktionen auf Schrotts "Morgenlandgeschichte": von totaler Ablehnung – etwa Homer-Spezialist Joachim Latacz – bis zur vorbehaltlichen Zustimmung. Zumal für einen Teil der Fachwelt die orientalischen Wurzeln Homers, die von Schrott als große Neuigkeit dargestellt werden, längst bekannt sind.

Zumindest ein Dutzend fachwissenschaftlicher Diskussionen sei für heuer bereits geplant, sagt Schrott. Bei der ersten, die kürzlich in Bochum stattfand, habe ihn überrascht, "dass die doch sehr diskussionsbereit waren und sich das Blatt millimeterweise wendet". Ihm sei wichtig, dass die Fachwissenschaften das jetzt abklopfen.

"Es gibt wohl keinen, der gespannter darauf ist, was korrekturbedürftig ist. Aber selbst wenn die mir ein paar Dutzend von meinen Behauptungen streichen, bleiben immer noch ein paar hundert übrig und das ist exponenziell mehr, als die Homer-Forscher bis jetzt gehabt haben", sagt Schrott, der sich endgültig in Fahrt geredet hat. "Die wussten im Wesentlichen ja nur, dass man von Homer nichts weiß."

Auch wenn Schrott sie hart hernimmt: Die deutschsprachigen Althistoriker, Altphilologen und anderen Altertumsfachvertretern müssen diesem komparatistischen Schliemann des 21. Jahrhundert trotz allem dankbar sein: Mit seinen Thesen hat er ihnen in den vergangenen Wochen auf einen Schlag viel mehr Öffentlichkeit gebracht, als dass dem ganzen vergangenen Jahr der Geisteswissenschaften gelungen ist. (Stefan Gmünder und Klaus Taschwer, ALBUM/DER STANDARD, 08/09.03.2008)