Der Darm: nicht "bloß" Verdauungsorgan, sondern ein Kontrollsystem für die gesamte Körperbalance.

Barbara Gindl
Tirol steht an der Spitze. Allerdings an keiner, die die Gesundheitsbeauftragten des Landes besonders glücklich zurücklässt. Denn das kleine Alpenbundesland ist europaweit führend - in der Zahl der Menschen, die an Dickdarmkrebs erkranken. In Tirol erhalten 30 von 100.000 Einwohnern die erschütternde Nachricht - das ist fast ein Drittel mehr als der europäische Durchschnitt mit 21 Patienten pro 100.000 Einwohner.

Früh genug suchen

Für mehr als die Hälfte der Krebspatienten kommt die Diagnose Darmkrebs zu einem Zeitpunkt, an dem die Chance zu überleben bereits sehr gering ist. Dabei sind die Tumoren im Darm sehr einfach zu erkennen, wenn man denn früh genug danach sucht. "Zunächst entwickeln sich im Darm gutartige Geschwülste oder Polypen, wie man sie auch nennt", sagt Brigitte Marian vom Institut für Krebsforschung an der Universität Wien. Anfangs würden sie noch sehr der normalen Darmschleimhaut ähneln, fährt sie fort, doch mit der Zeit verändern sie sich, sodass es immer wahrscheinlicher wird, dass dort dann eben auch Krebszellen entstehen.

Genetisch prädisponiert

Doch warum geschieht dies? Wie immer in der Medizin gibt es viele Antworten auf die Frage nach dem Warum. Worüber allgemein Klarheit herrscht: Der Darm ist ein äußerst sensibles System. Er wird von einer Vielzahl von Signal-weitergebenden Netzwerken kontrolliert. "Also ist es ganz wichtig, dass dieses System ausbalanciert bleibt", so Marian. Gerät ein Faktor aus dem Gleichgewicht, kann das den gesamten Ablauf ins Wanken bringen.

Genetischer Fehler

Zwei dieser Faktoren kennen die Darmkrebsexperten ganz genau. Sie liegen in den Genen. "Es gibt eine Gruppe von Menschen, die noch Jugendliche sind, aber deren Darm übermäßig viele Polypen bildet", erklärt der deutsche Krebsforscher Magnus von Knebel-Doeberitz von der Uniklinik Heidelberg. In ihrem Erbgut hat sich ein Fehler in das so- genannte APC-Gen eingeschlichen. Gewöhnlich schaltet es den Signalweg ab, der Zellen daran hindert, übermäßig zu wachsen.

Fällt dieses Gen aus, bildet der Darm mehr und mehr Schleimhaut, die sich letztlich zu den pilzartigen Polypen ausbildet. "Ein weitere Folge ist, dass er über mehrere Zellteilungen hinweg das Erbgut der Zellen durcheinander bringt", so von Knebel-Doeberitz und betont, dass auch das ganz allgemein betrachtet ein weiteres Merkmal von Krebszellen sei.

Gestörte Reparatur

Eine weitere Störung, die Mediziner und Wissenschafter mit Misstrauen betrachten, nennt sich HNPCC. Die DNA verfügt über einen eigenen, recht effizienten Mechanismus, um Mutationen auch wieder zu reparieren. Doch genau diese Reparaturfunktion ist dann gestört. Die Folge: Mehr und mehr winzige Veränderungen des Erbguts können auf diese Weise unkorrigiert bleiben und dazu führen, dass die Zelle schließlich entartet. "Dabei spielen Polypen aber dann fast gar keine Rolle mehr", so Marian.

Der natürliche Lauf der Dinge: Je älter der Mensch wird, umso mehr Mutationen schleichen sich ins System ein, und umso mehr steigt dann auch das Risiko, an Krebs zu erkranken. Dabei beschränken sich die Tumoren dann auch nicht mehr nur auf den Darm, sondern können auch in Blase, im Magen und den Eierstöcken auftreten.

Genvarianten

Trotzdem machen diese beiden erblichen Auslöser von Dickdarmkrebs lediglich zehn Prozent der Erkrankungen aus. Auf Österreich bezogen, entwickeln also nur 500 Menschen jemals aus diesen Gründen die sogenannten Kolonkarzinome. Eine weitere Gruppe von Menschen, die Wissenschafter auf etwa 20 Prozent schätzen, ist eigentlich gesund, trägt aber in ihrem Erbgut viele kleine Genvarianten, die die Wahrscheinlichkeit, an Dickdarmkrebs zu erkranken, erhöhen: Sie beschleunigen Veränderungen, nehmen Einfluss auf das Wachstum von Zellen, können Signalwege stören oder drehen an Stellschrauben, die gewöhnlich die Entwicklung von Tumoren unterdrücken. "Doch weil das Zusammenspiel von äußerlichen Faktoren und unterschiedlichsten Kombinationen der Varianten so komplex und vielfältig ist, wäre es falsch, von Erbkrankheiten zu sprechen.

Faktor Ernährung

Alle anderen Darmkrebserkrankungen scheinen bislang tatsächlich von der Ernährung, Medikamenteneinnahme und anderen tumorbildungsfördernden Substanzen auszugehen. "Man weiß etwa, dass die Ernährung beeinflusst, welche Bakterien sich im Darm ansiedeln", erklärt von Knebel-Doeberitz. Das Milieu, das die Keime dort bilden, kann das Auftreten von Mutationen beschleunigen. Dann kommt es zu einem ähnlichen Prozess wie bei den Patienten, die empfänglicher für Krebserkrankungen sind.

Medikament Avastin

Mit Medikamenten ist den Darmkarzinomen bislang allerdings nur schlecht beizukommen. Allerdings scheint Besserung in Sicht: Nach eigenen Angaben hat die Firma Roche weitere Zulassungen für das Medikament Avastin, einen Antikörper, der die Verbreitung des Krebses aufhalten soll. Seit 2004 kann es bereits gegen Dickdarmkrebs eingesetzt werden, doch nun gaben die Zulassungsbehörden ihr Einverständnis, es in Kombination mit anderen Therapien zu verabreichen, heißt es bei Roche. "Für die rund 400.000 Menschen in Europa, bei denen jedes Jahr die Diagnose metastasierender Dickdarmkrebs gestellt wird, bedeutet dies enorm viel", meint William Burns, Geschäftsführer bei der Division Pharma von Roche.

Körpereigener Schutz

Allerdings sind die Wissenschafter inzwischen auch einem neuen körpereigenen Schutz auf die Spur gekommen. Etwa 15 Prozent aller Patienten erkranken an einer Darmkrebsform, die offensichtlich weniger schnell Metastasen auslöst als andere. Den Grund dafür vermuten sie in kleinen Auswüchsen der DNA, die sie als Mikrosatelliten bezeichnen. "Wir vermuten, dass sie die Abwehrzellen im Blut stimulieren", sagt der Heidelberger Krebsforscher. Er hofft, dass diese Erkenntnisse eines Tages zu Impfstoffen gegen einen Teil der Darmkrebserkrankungen führen wird. (Edda Grabar, DER STANDARD, Printausgabe, 10.3.2008)