Wien - Selbst langjährige Abgeordnete von ÖVP und SPÖ wissen momentan nicht, welche Zukunft die Koalition erwartet. In den Gängen des Parlaments wurde am Dienstag zwar heftig über den Grad der Zerrüttung der großen Koalition diskutiert, mehr als Gerüchte kennen die meisten Politiker aber auch nicht, ergaben Recherchen des Standard am Rande der Nationalratssitzung. Fix scheint nur zu sein, dass im Laufe dieser Woche keine Entscheidung über vorgezogene Neuwahlen fällt. Der Grund: Der bereits im Parlament liegende Neuwahlantrag des BZÖ kann bei der nächste Sitzung des Parlaments am Donnerstag noch nicht behandelt werden. Dafür hätte am Dienstag ein so genannter Fristsetzungsantrag erfolgen müssen, was nicht passiert ist.

Keine Arbeit fürs Parlament

Erfolgt der Neuwahlbeschluss aber erst bei der nächsten Sitzung am 9. April, ginge sich kein Wahltermin vor der am 7. Juni beginnenden Fußball-EM aus. Und eine Wahl während der EM gilt als äußerst unwahrscheinlich. Von den Fristen her spricht also vieles gegen Wahlen vor dem Sommer, außer es kommt unmittelbar nach Ostern noch zu einer Sondersitzung des Nationalrats.

Das heißt freilich nicht, dass sich die Lage in der Koalition entscheidend entspannt hätte. Auch das Krisengespräch zwischen Bundespräsident Heinz Fischer, Regierungschef Alfred Gusenbauer (SPÖ) und Vizekanzler Wilhelm Molterer (ÖVP) am Montagabend brachte dem Vernehmen nach keine Annäherung in der Streitfrage Steuerreform: Rot beharrt auf dem Termin 2009, Schwarz auf 2010 (siehe Seite 21). Angesichts der gegenseitigen Blockade fühlt sich so mancher Abgeordneter bereits unterbeschäftigt. Im Parlament gab es am Dienstag nur wenige relevante Gesetzesvorlagen zu bearbeiten. "Mit Sicherheit wäre es besser, wenn man schneller zu Lösungen kommen würde", kritisierte der Zweite Nationalratspräsident Michael Spindelegger. Auch für die SPÖ-Mandatarin Melitta Trunk liefert die Regierung zu wenig. "Das liegt weniger an den Inhalten und mehr an den handelnden Personen." Von dieser Kritik sei auch SPÖ-Chef und Kanzler Gusenbauer nicht ausgenommen: "Er muss wirklich mehr kommunizieren."

Breite Front gegen Wahlen

Europa-Abgeordnete von Rot und Schwarz stimmten in die Klage ein. "Neuwahlen lösen die Probleme nicht", sagte der SPÖ-Abgeordnete Hannes Swoboda. Sein ÖVP-Kollege Othmar Karas mahnte: "Legt einen klaren Zeitplan vor, was bis wann abgearbeitet werden soll." Und auch Ländervertreter wie Oberösterreichs Landeshauptmann Josef Pühringer und Salzburgs ÖVP-Chef Wilfried Haslauer forderten: Weiterarbeiten!

Zumindest zwei Minister haben sich die zahlreichen Appelle der vergangenen Tage zu Herzen genommen. Wirtschaftsminister Martin Bartenstein (ÖVP) und Justizministerin Maria Berger (SPÖ) brachten eine erste Maßnahme unter Dach und Fach, um die hohe Teuerung zu kompensieren. Kommenden April werden die Richtwerte für Mieten nur um 2,2 statt um 3,6 Prozent erhöht (siehe Seite 22). Bartenstein gab sich demonstrativ optimistisch: "Wer arbeitet, findet schnell zur Zusammenarbeit. Und wer zusammenarbeitet, hat wenig Zeit für Streit."

Einigen konnten sich Gusenbauer und Molterer auch auf eine gemeinsame Erklärung zum 70. Jahrestages des "Anschlusses" Österreichs an Hitler-Deutschland, welche die beiden Regierungsspitzen am Mittwoch im Parlament verlautbaren werden. Ob man sich im Ministerrat davor auf weitere Maßnahmen im Kampf gegen die hohe Inflation einigen kann, blieb hingegen offen.

Noch viel schwieriger gestaltet sich die Suche nach einem Kompromiss bei der Steuerreform - nur Optimisten hoffen doch noch auf eine Einigung. Eine Entlastung im Bereich der Sozialversicherung bereits 2009 ist auch für manche ÖVPler denkbar. Freilich dürfe man dann nicht von "Steuerreform" reden.

Angst vorm Gesichtsverlust

"SPÖ und ÖVP haben sich da in etwas verkrallt, jetzt geht es um Gesichtsverlust", sagt Wirtschaftskammerpräsident Christoph Leitl. "Ohne den Zampano zu spielen" würden er und andere Sozialpartner - auch Gewerkschaftsboss Rudolf Hundstorfer bestätigt Gespräche - im Hintergrund versuchen, die Verkrampfung zu lösen. Leitls Rezept klingt einfach: "Erst entscheiden, was man tun will, dann über den Termin reden", empfiehlt er: Wenn die SPÖ etwa "einen plausiblen Plan für Einsparungen im Jahr 2009" vorlegen könne, um die Steuerreform zu finanzieren, dann könne er sich auch mit einem früheren Termin anfreunden.

Fruchten die Versöhnungsversuche oder stehen Frühjahrs-Wahlen ins Haus? Darüber rätseln die roten und schwarzen Abgeordneten ebenso gespannt wie ihre Wähler. Ein ÖVP-Mandatar, der anonym bleiben will, meint in Anspielung auf ÖVP-Klubchef Wolfgang Schüssel, dem Neuwahlgelüste nachgesagt werden: "Im Klub haben wir das noch nicht diskutiert. Ich weiß aber auch nicht, ob alle mit offenen Karten spielen." (von Gerald John und Günther Oswald/DER STANDARD, Printausgabe, 12.3.2008)