
Erlebte das unzensurierte Erscheinen seines Romans nicht mehr: Wassili Grossman starb 1964.
Wien – In der letzten Minute vor dem Angriff ist es ganz still. Es ist der Dezember des Jahres 1942. In Stalingrad liegt die 6. Armee der deutschen Wehrmacht, verbissen wird dort um jedes Haus gekämpft. Außerhalb der Stadt aber wird die sowjetische Gegenoffensive vorbereitet. Die Flugzeuge sind schon in der Luft, nun zögert der Panzerkorpskommandant Nowikow den Einsatz seiner Truppe noch ein wenig hinaus. Er will sie nicht verheizen. "In dieser Stille, die dem stummen, trüben Urmeer glich, in diesen Sekunden erreichte die Kurve der Menschheitsgeschichte ihren Scheitelpunkt."
Mit diesem großen Wort charakterisierte Wassili Grossmann nicht nur die Schlacht um Stalingrad, er meinte damit auch seinen gerade triumphal wiederentdeckten Roman "Leben und Schicksal", in dem er vor fünfzig Jahren einen Versuch unternahm, die ganze Erfahrung des großen Kriegs gegen den Faschismus erzählerisch in den Griff zu bekommen. Im Unterschied zu dem gerade vieldiskutierten Täterroman "Die Wohlgesinnten" von Jonathan Littell kam bei Grossman die Substanz aus dem eigenen Erleben. Der häufig gezogene Vergleich mit "Krieg und Frieden" von Leo Tolstoi ist schon deswegen berechtigt, weil Grossman selbst sich daran maß.
Die Verspätung, mit der nun einer der großen Romane des 20. Jahrhunderts sein Publikum erreicht, hat zahlreiche Gründe. Grossman schrieb "Leben und Schicksal" in den späten Fünfzigerjahren. Er konnte sich dabei auf seine eigenen Eindrücke und Tagebücher aus der Zeit als Korrespondent bei der Roten Armee beziehen. Als 1956 unter Nikita Chruschtschow die Entstalinisierung begann, machte Grossman sich Hoffnungen auf eine unzensurierte Publikation. Der erste Teil, der unter dem Titel "Wende an der Wolga" 1959 auch auf Deutsch in der DDR erschien und lange vergriffen ist, konnte nur nach Eingriffen der Zensur gedruckt werden und ist für die Lektüre von "Leben und Schicksal" hilfreich, jedoch nicht unabdingbar.
Wer das zweite Buch kennt, wird sich nicht wundern, dass es in der UdSSR verboten blieb. Zu sehr ist es vom Schock des Jahres 1937, von den "Säuberungen" in der Kommunistischen Partei, von der willkürlichen Anklage gegen "Feinde und Diversanten" durchdrungen. Grossmann selbst schrieb an Chruschtschow einen Brief, konnte aber nichts ausrichten. Stattdessen wurde im letzten Moment ein Typoskript des Romans in Sicherheit gebracht und abfotografiert, es wurde (durch den österreichischen Kulturattaché Johann Marte, vermittelt über die Slawistin Rosemarie Ziegler) in den Westen geschmuggelt und dort auch veröffentlicht. 2005 erschien in Russland eine definitive Ausgabe, auf der nun auch die deutsche Neuausgabe im Claassen Verlag beruht.
Hitler und Stalin
Was macht den Rang des Romans aus? Es ist wohl die (wesentlich abstrakter auch von Littell angestrebte) Verknüpfung von Literatur und Geschichtsphilosophie, die sich in Formulierungen wie der vom "Scheitelpunkt der Menschheitsgeschichte" manifestiert, die Grossmann aber durchgehend erzählerisch einlöst. Die Schlacht um Stalingrad bildete tatsächlich einen Wendepunkt im deutschen Angriffskrieg in Osteuropa, sie bildet in "Leben und Schicksal" aber eine Peripetie, die ihrerseits mehrfach gebrochen ist.
Im Zentrum steht wie bei Tolstoi eine weitverzweigte Familie, die (jüdischen) Schaposchnikows. Der Physiker Viktor Pawlowitsch Strum, wichtigster männlicher Vertreter der Familie und eine der Hauptfiguren des Romans, macht eine grundlegende Entdeckung. Sofort gerät er damit aber in die Zwickmühlen des sowjetischen Alltags. Seine Theorie entspricht nicht "Lenins Ansichten über die Natur der Materie".
Grossman zeichnet Strum als einen zerrissenen Helden, dessen Mutter Anna Semjonowna in einem Vernichtungslager der Nazis stirbt, während seine Schwägerin Genia erleben muss, wie ihr ehemaliger Mann, der glühende Kommunist Krymow, von der Front weg verhaftet wird und in der Lubjanka, dem berüchtigten Gefängnis des Geheimdienstes, verschwindet. Was ihm genau vorzuwerfen ist, bleibt offen – die Willkür des stalinistischen Terrors wird in Leben und Schicksal mit der gleichen Intensität heraufbeschworen wie die Systematik der Vernichtungspolitik der Nazis.
Um die ganze Spannweite des Romans zu erfassen, braucht es noch ein paar Eckdaten: Grossman erzählt nicht nur von der Schlacht um Stalingrad, sondern auch in einer langen, ungeheuerlichen Szene aus dem Inneren einer Gaskammer bis an den Punkt des Todes; er lässt Stalin und Hitler persönlich auftreten.
Tödlichkeit der Ideologien
Im Grunde beantwortete Grossman viele Jahre vor dem deutschen Historikerstreit dessen Fragen, wenn auch auf paradoxe Weise: Gab es eine "Priorität" der sowjetischen Verbrechen gegenüber den nationalsozialistischen? Zweifellos, trotzdem ändert dies nichts daran, dass keine der beiden Ideologien in ihrer Tödlichkeit auf die andere rückführbar ist.
Grossman hält daran fest, dass in Stalingrad die "Lawine" des Faschismus zum Stillstand gebracht wurde und dass damit eine welthistorische Katastrophe ungleich größeren Ausmaßes aufgehalten wurde, auch wenn der sowjetische Sieg von einem "Volkskrieg" sofort auf "Staatsnationalismus" hin ideologisiert wurde. Die Verbrechen auf beiden Seiten sind unvergleichlich und haben doch ein menschliches Maß – im individuellen Leiden, für das die Literatur sich zuständig erklärt.