Erleben wir heuer eine mediale Überinszenierung und in der Folge eine mediale Übersättigung von den vielen Jahrestagen? Zu den Gedenktagen 2008 gehört freilich auch die Erinnerung an November 1918, an das Ende des Ersten Weltkrieges und den Zusammenbruch der Doppelmonarchie. In Deutschland stand und steht aber noch immer vor allem die Diskussion um die Bewertung der Studentenrevolte und der "neuen Linken" im Jahre 1968 im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Der vom Zeithistoriker Götz Aly begangene Tabubruch in seinem Buch "Unser Kampf 1968 - ein irritierter Blick zurück" wirbelte im deutschen Feuilleton viel Staub auf.

Anders liegen die Dinge in Polen, wo im Zuge eines Machtkampfes innerhalb der kommunistischen Staatspartei eine der übelsten als "antizionistisch" kaschierten antisemitischen Kampagnen ab März 1968 fast 15.000 Überlebende des Holocausts und ihre Kinder aus dem Land vertrieben hat. Dass gerade in diesen Tagen der polnisch-amerikanische Autor Jan Tomasz Gross mit seinem Buch "Angst" bisher verschwiegene Tatsachen über die antisemitischen Ausschreitungen nach dem Krieg und die Komplizenschaft der katholischen Kirche beschrieb, löste neue Hasstiraden gegen Juden aus. Die neuen Spannungen überschatten auch die Bemühungen um eine öffentliche Entschuldigung wegen der 1968 entfesselten Hetzkampagne. Dass gerade die Symbolfigur des studentischen Widerstandes, der 1968 zu drei Jahren Haft verurteilte Adam Michnik, bei der Ordensverleihung an die einstigen Studentenführer vom Staatspräsidenten ignoriert wurde, spricht Bände über das Demokratieverständnis der Kaczynski-Brüder.

Vierzig Jahre sind auch vergangen seit dem "Prager Frühling", dem Bestreben der Reformkommunisten, dem Sozialismus ein "menschliches Antlitz zu geben", zermalmt im August durch die Panzer der alarmierten Sowjetführung. In Wien und anderswo im Westen werden großangelegte wissenschaftliche Konferenzen vorbereitet. Angesichts der scharfen innenpolitischen Auseinandersetzungen und der Pattsituation im tschechischen Parlament nimmt allerdings die politische und intellektuelle Elite keinen allzu regen Anteil am gescheiterten Experiment, den Kommunismus zu reformieren.

In Österreich ist indessen die mediale und wissenschaftliche Aufarbeitung des "Anschlussjahres" 1938 in vollem Gange, und das Bedauern mancher Historiker über die "Abkühlung der Geschichte" oder die "erkaltete Erinnerung an 1938" wirkt fast künstlich. Ganze Zeitungsbeilagen und eine Reihe von Neuerscheinungen, TV-Dokumentationen und Rundfunksendungen behandeln alle möglichen Facetten der dramatischen Entwicklung. Wichtig sind auch die letzten Umfragen des GFK-Institutes, die mehr Interesse (49 Prozent) an Zeitgeschichte zeigen als noch vor 20 Jahren (38 Prozent) und auch eine kritischere Einstellung zu den Umbrüchen von März 1938 als 1980.

Immerhin meinen schon zwei Drittel der Befragten (1987: 46 Prozent), der Anschluss wäre vermeidbar gewesen, wenn alle politischen Kräfte vereint gegen Hitler gekämpft hätten. Noch immer glauben aber 26 Prozent (1980: 44 Prozent), dass der Anschluss eine politische und wirtschaftliche Notwendigkeit gewesen sei. Bei den FPÖ-Wählern beträgt dieser Anteil sogar 53 Prozent. Otto von Habsburgs unglückliche und inakzeptable Rede im Reichsratssaal des Parlaments hat allerdings dem Kampf um die Deutungshoheit über die pauschale "Opfertheorie" und die Rolle Dollfuß' zeitweilig einen neuen Auftrieb verliehen. Die identitätsstiftenden Gedenktage lehren jedenfalls, dass man aus der Geschichte nur durch Erinnerung und nicht durch diskretes Schweigen lernen kann. (Paul Lendvai/DER STANDARD, Printausgabe, 13.3.2008)