Gebilde wie Vogelnester, Wolken oder überdimensionale, watteweiße Seeigel zum Reinkriechen zeigen, wie man sich dem Thema Raum auch nähern kann.

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"Lieber Besucher. Die Ausstellung ist begehbar, besitzbar und stachelig! Achtung Augen! Betreten und Besitzen auf eigene Gefahr". Obwohl der Handzettel vor möglichen Komplikationen warnt, macht er eigentlich noch viel neugieriger. Noch einmal kurz das nestartige Gebilde umkreisen, das da von der Decke baumelt und die starren Stacheln wie ein überdimensionaler Seeigel in alle Richtungen streckt. Schon sitzt man drin, schaukelt leise wie in einem Sitz aus Wattewolken vor sich hin, lugt wie ein Vogeljunges nach draußen und wundert sich über all die artähnlichen Gespinste im Raum, die so archaisch wie futuristisch gleichermaßen wirken.

Als seien sie aus schneeweißem Seegras gestrickt oder kunstvoll von Webervögeln gesponnen, muten die organisch geformten, herabhängenden oder in alle möglichen Richtungen strebenden Gebilde an. Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die DNA der poetischen Raumkonstruktionen als hundsgewöhnliche, ineinanderverwobene weiße Plastikriemen, die eindeutig der Spezies "gemeiner Kabelbinder aus dem Baumarkt" zuzuordnen sind. So banal das Material, so ungewöhnlich der Umgang damit, so verblüffend die Wirkung.

Mit ihrer Installation "Der dritte Raum" zeigen 52 Studenten des Studienganges Innenarchitektur der Akademie der Bildenden Künste München ein Gemeinschaftsprojekt der drei Lehrstühle Raumgestaltung, Produktdesign und Gestaltung im Freiraum. Anlass ist das 200-Jahr-Jubiläum der Akademie, die ihren Geburtstag mit einer Reihe von Ausstellungen begeht. "Der dritte Raum" ist im Rahmen der Ausstellung "Architektur im Kreis der Künste" noch bis zum 18. Mai 2008 im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne zu sehen.

"Qualitäten der Raumgestaltung"

Das Besondere dieses Projekts ist die übergreifende Zusammenarbeit von Studenten und Professoren der drei Fachbereiche. Die Aufgabe: "Qualitäten der Raumgestaltung" sollten die Studenten für sich finden, definieren und darstellen. Nach einer Phase des Brainstormings kristallisierte sich schließlich der Ansatz heraus, experimentell mit Kabelbindern zu arbeiten - dazu erdacht, ganze Kabelstränge zu umschlingen und festzuzurren. In München haben sie nun viel mehr im Griff.

"Es gibt grundsätzliche Funktionen oder Ansprüche an Innenräume, welche die Studenten umsetzen und interpretieren sollten. Da ist einmal das Thema ,Gruppe und Gemeinschaft', dann ,Rückzug des Individuums' sowie ,Selbstdarstellung'", erklärt Maria Auböck. Die Wiener Architektin lehrt seit 1999 als Professorin das Fach "Gestalten im Freiraum" an der Kunstakademie. Diese drei Ansprüche übersetzten die Studenten frei in konkrete, erlebbare Formen. "Hands on" nennt Auböck diese praktische Art des Unterrichts.

Die Ergebnisse, die den Kabelbinderabsatz in Baumärkten rasant in die Höhe treiben könnten, sind überraschend und gleichzeitig auch irgendwie selbstverständlich: So überzieht ein geknüpfter Teppich eine großzügige Sitzgruppe aus aufgeblasenen Ballons. Das Ganze wirkt wie ein riesiges Relax- und Fläzmöbel, das zum völlig entspannten Abhängen auffordert. Und genau das tun die Museumsbesucher, die ansonsten gewohnt sind, Museumsstücke mit respektvollem Abstand zu beäugen. Neben dem Knotzplaneten fordert ein Hänge-Kokon als Sinnbild des In-sich-Zurückziehens die Besucher auf, sich ins mit Moltonfleckerln (gewebter Baumwollstoff) gepolsterte Innere zu verziehen. Wer eher auf Erleuchtung aus ist, kann durch eine schmale Spaltöffnung einen raumhohen Zylinder betreten, in den durch die obere Öffnung gleißendes Licht wie auf eine Bühne fällt.

"Tabula Rasa"

Der Aufwand, der hinter den spielerisch wirkenden Formen steckt, steht für den hohen inhaltlichen Anspruch des Projekts: An die 1,3 Millionen der recycelbaren Kabelbinder knüpften die Studenten in monatelanger Arbeit an- und ineinander. 16.870 Stunden dauerte das, um genau zu sein. Statiker überprüften den Zusammenhalt der erstaunlich stabilen Konstruktionen, die ein netzartiger, an wenigen Punkten fixierter Himmel überspannt und zu einer zusammenhängenden Installation verbindet.

Und die Botschaft ? Die liegt ganz klar in einer Art "Tabula Rasa"-Denke, im Verlassen gehabter Denkschemata und im Loslösen von den Silhouetten handelsüblicher Möbelformen. Frei nach dem Motto: "Wo steht, dass ein Stuhl vier Beine haben muss?" Dazu fällt einem, vor allem im sanft schaukelnden Rund des Nestkokons sitzend, der berühmte Satz des Künstlers Francis Picabia ein: "Der Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann." (Franziska Horn/Der Standard/rondo/14/03/2008)