Wien - Werke über von den Nazis vertriebene oder verfolgte Wissenschafter, in erster Linie Juden, gibt es mittlerweile einige. Nun beleuchtet ein neues Buch auch die Situation der Studenten an der Universität Wien nach dem "Anschluss" Österreichs 1938 an Hitler-Deutschland. Wie sich herausstellte, wurden nicht weniger als 2.230 Studierende als Juden vertrieben. "'Anschluss' und Ausschluss 1938" von Herbert Posch, Doris Ingrisch und Gert Dressel wurde kürzlich in Wien präsentiert.

Uni Wien

Die Autoren sichteten und analysierte dazu zahlreiche Quellen unter anderem an der Uni Wien. Demnach gab es im Wintersemester 1937/38 insgesamt 9.180 Studenten an der damals wie heute größten Uni Österreichs. Im Folgejahr reduzierte sich die Zahl auf 5.331. Wie weitere Recherchen ergaben verließen 23 Prozent davon die Universität unfreiwillig. Von den 2.230 jungen Frauen und Männern, die aufgrund der Nazi-Gesetze von der Uni vertrieben wurden, gelang 90 Prozent die Flucht, 90 wurden im Zuge der sogenannten Shoah ermordet.

"Nichtarierpromotionen "

Auffallend war, dass die Vertreibung der jüdischen Studenten in Deutschland mehrere Jahre dauerte, in Österreich aber nur einige Monate. So wurde bereits am 23. April 1938 eine Art Numerus clausus von zwei Prozent für jüdische Studierende verfügt. Von April bis Oktober wurden noch einige wenige Personen - darunter der spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky - unter demütigenden Bedingungen in sogenannten Nichtarierpromotionen mit Abschluss verabschiedet. Im Herbst 1938 wurden Juden Studium und Promotion generell verboten. Zahlreichen Personen wurden Doktorate sogar nachträglich aberkannt.

Im Zuge ihrer Recherchen haben die Autoren auch noch überlebende der Studentenvertreibungen von 1938 ausfindig gemacht und interviewt. Unter ihnen ist auch Werner Sokel als eher untypisches Beispiel. Er war Anfang 1938 noch Student für Romanistik in Wien und konnte nach seiner Flucht ein Studium für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University absolvieren. Heute zählt Sokel zu den international renommierten Experten für Franz Kafka und Commonwealth Professor.

" Ghettoisierung hat schon vorher gesiegt"

"Die Ghettoisierung hat schon vorher gesiegt", berichtete der im Zuge der Machtübernahme der Nationalsozialisten vertriebene ehemalige Student der Uni Wien und heutige Literaturwissenschafter Walter Sokel im Rahmen des Vortrages.

Sokel, Jahrgang 1917, war wie über 2.000 Kollegen wegen seiner jüdischen Herkunft nach drei Semestern Studiums von der Universität Wien vertrieben worden. Er floh über Italien und die Schweiz in die USA und machte Karriere als Literatur-Wissenschafter.

Ausgrenzung

Bei seinem Vortrag erinnerte er sich an die Zeit um 1933, als er als Gymnasiast schon von brutalen Angriffen auf jüdische Studenten hörte. Mit dem Ständestaat hätten die physischen Übergriffe zwar wieder aufgehört, das Ziel sei aber gleichgeblieben: "Es gab eine totale Ausgrenzung der Juden aus der Gemeinschaft an der Universität", sagte Sokel. Man sei wie durch eine "unsichtbare Welle" von den nicht-jüdischen bzw. nach der damaligen Diktion "arischen" Studierenden getrennt gewesen. Dabei sei diese Ghettoisierung nicht auf die Universität beschränkt gewesen.

"Dass mein Dasein an der Universität nicht von langer Dauer sein wird, war mit damals klar", so der spätere Professor weiter. Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen, wann es zum Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland komme. Warum er dennoch vorerst in Wien geblieben war und zu studieren begonnen hatte, begründete Sokel mit einer Art Verdrängung des Unvermeidlichen. Außerdem sei das Auswandern nicht so einfach gewesen, die westeuropäischen Staaten hätten bereits Schutzwälle errichtet gehabt. Als es nicht mehr anders ging, entschied er sich, sein Europa, in dem er eigentlich bleiben wollte, zu verlassen.

"Obwohl wir damit gerechnet hatten, kam der Anschluss letztendlich jäh", sagte Sokel. Das "provisorische Dasein" in Wien sei mit einem Schlag zu Ende und von einem "nach Lebensrettung drängenden Dasein" abgelöst worden. (APA)