Wien – Sie sind strenggläubige Juden, erzählen aber stolz von den Rabbinerinnen in ihrer Gemeinde. Sie haben kein Problem mit dem Autofahren am Sabbat und sehen mehrheitlich die Errichtung eines palästinensischen Staates neben Israel als Weg zum Frieden. Die Rede ist vom Reformjudentum, auch liberales oder progressives Judentum genannt.

Immerhin mehr als 1,7 Millionen Menschen fühlen sich dieser religiösen Strömung verbunden. Seit Donnerstag tagt der Dachverband der liberalen Gemeinden, die World Union for Progressive Judaism, erstmals in Wien. Die Umstände des Treffens sind schwierig. „Die religiöse Szene radikalisiert sich immer stärker“, sagte Rabbiner Uri Regev, der Vorsitzende des Dachverbandes, der Presse bei der Eröffnung der Tagung. In den orthodoxen Gemeinden nehme die Bedeutung der progressiven Strömungen ab.

Eine Besonderheit der liberalen Gemeinden ist, dass sie die überlieferten Texte, einzelne Verse des Alten Testaments sind immerhin bis zu 3000 Jahre alt, aus dem Blickwinkel der Moderne lesen. Manche Bestimmungen werden so außer Kraft gesetzt, andere aufgeweicht. Frauen und Männer beten bei den Liberalen daher gemeinsam, und sie sind gegenüber Konvertiten aufgeschlossen.

„Aber deswegen werfen uns Traditionalisten vor, dass wir die Religion zerstören. Wir sind aber kein Judentum für Bequeme“, sagt Theodor Much. Much ist Präsident von Or Chadasch, der jüdisch-liberalen Gemeinde in Österreich, der etwa 100 Familien angehören und die 1990 gegründet wurde. Das Reformjudentum als solches geht auf den Beginn des 19. Jahrhunderts zurück und ist zunächst in Deutschland entstanden. Heute gibt es die größten Gemeinden in den USA.

In Österreich kämpft Or Chadasch damit, dass sich die Gemeinde keinen Vollzeitrabbiner leisten kann. Weder von der Stadt Wien noch der Kultusgemeinde, die sich selbst der orthodoxen Strömung verpflichtet sieht, gibt es Geld.

Bei dem Treffen des Reformjudentums in Wien, an der rund 200 Liberale teilnehmen und das bis Sonntag dauert, geht es neben der Rolle der Frauen („Bevorzugt oder benachteiligt? Der Status der Frau im Judentum“) um Israel, aber auch darum, wie das progressive Judentum verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden kann. Denn Orthodoxe kommen in den Medien weit öfter vor als die liberale Bewegung. Eine Erklärung dafür wurde schon beim Auftakt des Treffens gegeben: Orthodoxe haben den „exotischen Lebensstil“ und damit eine größere Anziehungskraft für die Presse. (András Szigetvari/Chenxin Jiang/DER STANDARD, Printausgabe, 14.3.2008)