Wien - Es ist ein trauriges Faktum: Die Zeitzeugen und Holocaust-Überlebenden werden langsam weniger. Der große europäische Autor Jorge Semprún und der Ex-Burgschauspieler Otto Tausig leben zum Glück noch, doch mussten sie beide krankheitsbedingt ihre Teilnahme an "Nie wieder. Wie sicher ist das europäische Friedensprojekt?", dem Anschluss-Gedenkabend mit Blick auf Europa im Burgtheater, absagen.
Semprúns Rede wurde von Ex-Unterrichtsminister Rudolf Scholten verlesen. Der spanische KZ-Überlebende und Widerstandskämpfer spricht darin über Freud und über die Bedeutung der jüdischen Kultur im Wien der 20er- und 30er-Jahre. Und er weist auf Edmund Husserl hin, der bereits 1935 in seinem Vortrag "Europa und die Krise der Philosophie" zu dem Schluss kam: "Europas größte Gefahr ist die Müdigkeit."
Zur heutigen Situation in Europa sagt Semprún: "Müdigkeit und Skepsis, auch wenn sie sich anders manifestieren, da keine Gefahr eines wachsenden staatlichen Totalitarismus existiert wie in den 30er-Jahren, bleiben doch die größten Gefahren für Europa."
Viel Beifall erntete der vor 18 Jahren aus Bulgarien nach Österreich geflohene Schriftsteller Dimitré Dinev. Mit seiner Rede zu den Reizworten "Europa", "Frieden" und "Sicherheit" entpuppte er sich als ein ebenso kluger wie gewitzter Rhetoriker: "Frieden ist das Wort, dem ich, seit ich in Österreich bin, am häufigsten auf Friedhöfen begegnet bin. Es ist das Wort danach [...]. Im Unterschied zum Frieden begegne ich dem Wort Sicherheit tagtäglich. Ich lese es in Zeitungen oder auf Plakaten, die die Haltestellen zieren."
Macht des Einzelnen
Dinev kritisierte die Politik und meinte, es sei dem Glück zu verdanken, dass er als ehemaliger Bewohner des Flüchtlingslagers Traiskirchen nun auf der Bühne des Burgtheaters stehen dürfe, "doch dieses Glück verdanke ich weder dem Gesetz, noch dem Staat. [...] Ich verdanke es einzelnen Personen, ich verdanke es der Macht des Einzelnen." So schloss sich der Kreis zu Semprún: Es gilt, für jeden Einzelnen, aus der satten Müdigkeit zu erwachen. Dann könnten, so Dinev, "ungeahnte Ressourcen an Güte und Barmherzigkeit" frei werden.