Sabine Gruber: "Seit ein paar Tagen steht der Schreibtisch wieder am Fenster. Der Freund, der mir die Höckerschwäne in der Alster gezeigt hat, war in Grosny und hat von aufgerissenen Schützenpanzerwagen und durchlöcherten Helmen berichtet. Vom Geruch des Blutes. Von einem russischen Soldaten, der beim Essen seinen Ellbogen auf der Leiche eines Kameraden aufgestützt hat."

Foto: Heribert Corn
Die Stille der Nacht erinnert mich an Kindheitstage, an denen nichts geschehen war, an Tage, die nicht aufhören wollten, die eine Nähe zu den Dingen erzeugten, zu den Stofftieren, Autos und Puppen, zu den Staubkörnern in einem Sonnenstrahl, der durch das Fenster des Kinderzimmers fiel. Ich sehe vor mir, wie die Teilchen in wilde Bewegung gerieten, nachdem ich meine Hände kurz in die Sonne gehalten hatte, wie ich mich kaum noch zu atmen getraut und minutenlang auf die Holzmaserungen des Parketts gestarrt hatte. Wie sich anderntags der ungleichmäßig aufgetragene Putz, die Farbtropfen oder kleinsten Beschädigungen an der Wand hinter dem Bett zu Umrissen von Figuren und Gegenständen geformt hatten, zu Beinen eines Skeletts, zum Gesicht eines Mädchens, dem das Lächeln weggerutscht war, zu Konturen eines Schwans.

Heute atme ich bei der Betrachtung von tanzenden Staubkörnern normal. Ich sehe keinen Schwan an der Wand, sondern assoziiere mit Schwan die Höckerschwäne in der Alster, Schwäne mit schwarzen Flügelspitzen, die als Reinheitsallegorie nicht mehr infrage kommen. Ich denke an Schwanengesang oder an den Satz "Mir schwant nichts Gutes". Ich sage ihn vor mich hin, verwende ihn vielleicht für einen Text.

Mitten in der Nacht – die Lichter in den Fenstern draußen sind alle ausgegangen, der Verkehr auf der Unteren Donaustraße hat abgenommen – denke ich, während ich bei Horaz nach den purpurfarbenen Schwänen suche, unvermittelt an die beiden Lebensmittelverkäufer in Venedig, die oft vor ihrem Laden gestanden sind. Sie haben die Angewohnheit gehabt, vors Geschäft zu treten und Passanten zuzunicken; manchmal ist nur einer auf die Gasse rausgegangen. Doch beide haben, wenn sie nicht mit Mortadellas, Salamis oder dicken Käselaiben hantierten, ihre Hände in den Taschen der Schürzen verborgen gehalten, nur die Daumen blickten heraus.

Wie bin ich von diesem weißen Wand-Schwan auf die Lebensmittelverkäufer gekommen? Ist hier eine Reihung durch die Farbe Weiß entstanden? Schwan – Schürze – Blatt. Kommt diese hellste unbunte Farbe einer Aufforderung zur Kapitulation gleich? Sollte ich lieber schlafen gehen? Ich versuche an der Wand hinter dem Schreibtisch einen Schwan zu finden, aber die Wandstrukturen beginnen sich unter meinen unruhigen Blicken zu bewegen. Stattdessen entdecke ich ein Pinselhaar, das sich von reichlich Farbe bedeckt, wie ein dicker Schrägstrich ausnimmt.

Ich schaue zum Fenster. Teile des Zimmers spiegeln sich im Glas, sodass die Zimmertür als dunkles Rechteck die jeweils zwei übereinanderliegenden Fenster des Nachbarhauses einfasst, während das Haus daneben durch mein sich in den Scheiben spiegelndes schwarzes Sofa aussieht, als sei es ein einstöckiges Landhaus auf dunklem Grund. Das Sofa ist die geteerte Zufahrtsstraße oder schwarze Erde; das Spiegelbild meiner Zimmerpflanze mischt sich mit den Zweigen der Platane vor meinem Fenster. So komme ich mitten in der Nacht in eine mir fremde Gegend, die mir vertrauter nicht sein könnte. Und ich beginne an einem Text zu schreiben. Oder auch nicht. Denn in dem Moment vernehme ich ein Geräusch, das ich nicht einordnen kann. Es klingt so nah, dass ich es in meinem Zimmer vermute. Ich schaue mich um: Es ist nichts zu Boden gefallen; die Bilder hängen noch an den Wänden.

Ein paar Sekunden später zerbricht unter lautem Klirren das Glas des rechten Außenfensters. Ich erhebe mich aus meinem Sessel, öffne das Innenfenster, betrachte das kreisrunde kleine Loch, von dem mehrere Sprünge abgehen. Ich schüttle den Kopf, fahre mit der flachen Hand vorsichtig über den Rahmen, als suchte ich nach einem Projektil. Keine Splitter, nichts. Dann öffne ich das Außenfenster. Auf dem Platz ist es dunkel, kalt. Niemand ist zu sehen. Ich schalte die Schreibtischlampe aus und blicke wieder aus dem Fenster, nun selbst im Dunkeln. Mich fröstelt. Nach einer Weile schließe ich das Fenster. Es ist drei Uhr morgens. Ich habe keine Zeile geschrieben. Und ich kann jetzt keine mehr schreiben. Ich setze mich in die hinterste Ecke des Zimmers, weiß nicht, was ich tun soll. Um diese Zeit einen Freund oder eine Freundin anrufen? Erzählen, dass man auf mich geschossen hat? Die Polizei verständigen?

Ich denke wieder an die übergewichtigen und kahlköpfigen Lebensmittelverkäufer, deren Daumen reglos aus den Schürzentaschen geragt waren. Das Bild kann mich jetzt nicht beruhigen, es ist eher so, dass ich in den Daumen ungesicherte Pistolenabzüge sehe und in den Taschen der Schürzen Halfter. Ich krieche auf allen Vieren ins Bad, putze mir, ohne Licht, die Zähne, krieche mit nach unten gehaltenem Kopf, wie ein gründelnder Schwan, durch das Schreibzimmer ins Schlafzimmer und lege mich im Dunkeln ins Bett.

Ein Jahr ist vergangen. Ich habe das kaputte Fensterglas ersetzen lassen und den Schreibtisch in den hinteren Teil des Zimmers gerückt. Ich bin nicht zur Polizei gegangen, obwohl mir meine Freunde dazu geraten haben. In den ersten Monaten nach dem nächtlichen Vorfall habe ich in der Nähe der Fenster den Kopf eingezogen.

Ich erzähle allen, dass es sich gewiss um einen Streich gehandelt habe. Dass jemand betrunken oder übermütig gewesen sei und mit einer Steinschleuder auf mein beleuchtetes Fenster gezielt habe, dass sich der Schütze und seine Komplizen möglicherweise im Gebüsch oder hinter den geparkten Autos versteckt hätten, obwohl ich weiß, dass das kreisrunde Loch im Glas nicht durch einen Steinwurf entstanden sein kann.

Seit ein paar Tagen steht der Schreibtisch wieder am Fenster. Der Freund, der mir die Höckerschwäne in der Alster gezeigt hat, war in Grosny und hat von aufgerissenen Schützenpanzerwagen und durchlöcherten Helmen berichtet. Vom Geruch des Blutes. Von einem russischen Soldaten, der beim Essen seinen Ellbogen auf der Leiche eines Kameraden aufgestützt hat.

In Tschetschenien sterben Bauern- und Arbeiterkinder oder die Söhne einfacher Angestellter, lese ich in einer Zeitung. Die reichen Russen zahlen Bestechungsgelder, damit ihre Kinder nicht in den Krieg müssen. Auch mein Freund stammt aus ärmeren Verhältnissen. Seine wohlhabenden Kollegen sitzen in den Kulturredaktionen. Sie fahren nach Venedig und nach Kassel.

In der römischen Antike wurde "purpureus" auch für glänzend weiß verwendet. Wie sonst könnte sich Venus in einer Ode des Horaz auf einem purpurfarbenen Schwanengespann fortbewegen? Ob die Höckerschwäne auch singen? Glänzen sie? Oder ist die Alster zugefroren? Es erscheint mir lächerlich, meinen Freund danach zu fragen.

Ich bitte ihn, mir Dinge zu erzählen, die er nicht schreiben darf, Beobachtungen, die in seinem Artikel keinen Platz finden. Ich sehe mein Gesicht im Fensterglas, denke seines dazu, während ich mit ihm telefoniere. "Pass auf dich auf", sage ich, bevor wir das Gespräch beenden. "Ich trage eine kugelsichere Weste", sagt mein Freund. "Sie beweist nur deine Sterblichkeit", sage ich.

Ich lebe in der Schusslinie

Mir ist übel. Ich öffne das Fenster, um Luft hereinzulassen. Als ich mich umdrehe, höre ich ein langgezogenes Pfeifen; es prallt etwas gegen die Wand über meinem Schreibtisch, fliegt weiter, wird von der hinteren Wand abgebremst, fällt zu Boden, springt über das Parkett wie die Perle meines Ohrrings, die sich vor ein paar Wochen aus der Fassung gelöst hat. Ich will das Fenster schließen, bücke mich instinktiv, als ich ein neuerliches Pfeifen vernehme; wieder prallt etwas über dem Schreibtisch ab, rast nach hinten – eine Weile hocke ich auf dem Boden, sammle die beiden Projektile ein. Ich wage mich nicht ans Fenster.

Bei meinem Freund läuft jetzt der Anrufbeantworter, meine Freundin hebt nicht ab. Die anderen will ich um diese Zeit nicht wecken. Am Morgen gehe ich zur Polizei. Am späteren Abend kommen drei Beamte zu mir. Einer der Uniformierten hält einen kleinen Spiegel an die Abprallstelle über dem Schreibtisch, der andere zielt von der Einschussstelle an der hinteren Wand mit einem Laserpointer zum Spiegel, der den Lichtstrahl zu jenem Fenster lenkt, von wo aus auf mich geschossen worden ist. Auch die Spuren des zweiten Projektils weisen auf dasselbe Fenster des Nachbarhauses. Es ist das einstöckige Landhaus mit der geteerten Zufahrtsstraße. Ich weiß nicht, wer dort wohnt. Ein paar Fenster weiter habe ich im Sommer öfter einen dicken Mann mit Glatze beobachtet, der auf den Platz hinuntergeschaut hat.

"Geh zum Fenster", sagt der eine Polizeibeamte zum anderen, "wohin fällt der Lichtstrahl?" – "Jetzt steht er in der Schusslinie", gibt der dritte zu bedenken. "Ich lebe in der Schusslinie", sage ich.

Wenig später sind alle Landhausfenster erleuchtet. Von meinem Schreibtisch aus sehe ich, wie sich die drei Polizeibeamten – einer nach dem anderen – aus dem Schussfenster beugen. Was hoffen sie zu entdecken? Den dunklen Grund, den mein Sofa auf die Scheiben projiziert?

Ich schaue auf die Wand. Die zweite Abprallstelle ist gleich hinter dem Schrägstrich. Was, wenn der Schütze über die Jahre eine Beziehung zu mir aufgebaut hat? Wenn er mich beobachtet? Wenn er mir jetzt, wo ein Kontakt hergestellt ist, auf dem Platz auflauert oder mich anruft?

Ein Teil der Landhausfenster liegt inzwischen im Dunkeln. Die Uniformierten haben das Haus des Schützen verlassen. Ich warte eine Stunde, zwei, dann rufe ich bei der Polizei an. Man habe keine Waffe gefunden, sagt einer der Beamten. Ja, der Mann sei dick. Und es stimme, er habe eine Glatze. Am nächsten Tag schiebe ich das Sofa vor die Bücherwand. Das Landhaus ist nun ein gewöhnliches, mehrstöckiges Zinshaus.

Manchmal spüre ich die Blicke des Mannes im Rücken, wenn ich das Haustor aufsperre. Mein Freund ist wieder in Grosny. Ich habe seit vierzehn Tagen nichts mehr von ihm gehört. Ob er auch eine Erkennungsplakette trägt? Eine Aluminiummarke wie die Soldaten? Wie die Hunde hier in Wien? Es ist bald Frühling. Mein Freund berichtet von Blütenblättern, von hauchdünnen Minen, die nicht töten, sondern verstümmeln. Manchmal liegen sie unter Konservendosen, auf die sich Menschen stürzen.

Ich habe Vorhänge gekauft, damit ich nicht ständig zum Fenster des Nachbarhauses blicke. Meine Freundin bestaunt meinen Mut. Sie wäre aus meiner Wohnung ausgezogen. Auf dem Weg zu mir ist sie dem Nachbarn begegnet. Eigentlich ein freundlicher Mann, sagt sie. Er sei auf dem Platz gestanden, die Hände in den Hosensäcken, nur die Daumen hätten herausgeschaut.

An der Wand über dem Schreibtisch ist eine schlecht verspachtelte Stelle, die aussieht wie ein unbetretenes Schneefeld. Schwäne habe ich noch immer keine entdeckt. In der Stille der Nacht höre ich manchmal ein Geräusch, von dem ich mir vorstellen könnte, dass es ihren Sterbelauten am nächsten kommt. (Sabine Gruber, ALBUM/DER STANDARD, 14/15.02.2008)