Empört über die Verlogenheit der Stadtverwaltung: Helmut Butterweck.

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Richard Neutra (1892-1970) und einer seiner renommiertesten Bauten, das "Kaufmann House" in Palm Springs.

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Einigermaßen fassungslos lese ich in einer Werbebroschüre der Gemeinde Wien ("Bausteine - Wohnen in der Donaustadt"): "Die heimische Architektur hätte Persönlichkeiten wie etwa Josef Frank, Richard Neutra oder Ernst A. Plischke gebraucht, aber diese waren nicht aus der Emigration zurückgekommen." Ich lese und mich packt die Wut. Richard Neutra nicht zurückgekehrt? Dass ich nicht lache!

Als Neutra erfuhr, seine Vaterstadt suche einen Leiter der Landes- und Stadtplanung, war er nicht nur zu haben, sondern er bewarb sich sogar: "Ich würde in der Tat von ganzer Seele wünschen, sowohl an der Zukunft wie auch an der Erhaltung der Persönlichkeit Wiens zum Besten mitzuwirken, und mein reichhaltiges berufliches Erleben anderer Städte in vielen Ländern, in vier Kontinenten, meine Erfahrung von Planungsproblemen, die stets so viel Menschliches wie Technisches einschließen, kann mich wohl als nützlicher Berater qualifizieren. Meine Funktion als Präsident des Landungsplanungskomitees des Staates Kalifornien und meine gegenwärtige Planungstätigkeit an einem großen Stadterneuerungsprojekt für Caracas, Venezuela, sind Beispiele meines Interesses und des Vertrauens öffentlicher Behörden in meine Hingabe an Projekte dieser Art."

Ich selbst schrieb damals, im Dezember 1957, im Anschluss an den Abdruck dieses Briefs: "Wo immer Neutra gearbeitet hat, er hat zum Ruhme der österreichischen Architektur gearbeitet. ... Sein Anerbieten ist eine große, fast unverdiente Chance für Wien. Auf keinen Fall kann man jetzt einen Herrn Pimpelhuber engagieren, ohne das Gesicht zu verlieren."

Neutra hielt sich damals in Wien auf, er wollte bleiben, aber man ließ ihn links liegen und gab ihm keine interessanten Aufgaben. Weder baukünstlerisch noch stadtplanerisch. Also ging er wieder. Wie so viele. Eine Heimstatt des Geistes zu werden, bemühte sich Wien in den Fünfzigerjahren nämlich genau so wenig wie das ganze Österreich.

So waren sie eben, die Fünfzigerjahre, die Zeit, in der Österreichs heutigem Aushängeschild Josef Hoffmann sogar die Eintragung des Berufs "Architekt" in den Pass verweigert wurde, weil sein Diplom im Krieg verlorengegangen war. Er benötigte ihn 1955, weil ihn Mme. Jacques Stoclet nach Brüssel eingeladen hatte, um sein Palais Stoclet, die 1911 fertiggestellte Ikone einer Epoche, noch einmal zu sehen.

"Ham S' kan andern Titel?", wollte der Beamte wissen.

"Ich bin auch Oberbaurat," antwortete Hoffmann.

"Oberbaurat kennen ma schrei'm, des geht," meinte der Beamte.

Josef Hoffmann erzählte mir die Geschichte mit einer Mischung aus Verwunderung, Verärgerung und Ironie.

Wien hat zwar statt Neutra alles andere als einen Herrn Pimpelhuber engagiert, nämlich mit Roland Rainer einen anderen Großen, doch an der Verlogenheit der Krokodilstränen über die leider nicht zurückgekehrten Emigranten ändert dies nicht das Geringste. Auch Rainer hat sich übrigens am österreichischen Umgang mit Architektur den Kopf wundgestoßen, und zwar bis zum Schluss. Meine letzte Begegnung mit ihm war eine zufällige in der U-Bahn, bei der er sich zornig über den Umbau des Gymnasiums in der Bernoullistraße äußerte. Man hatte es nicht für nötig gehalten, ihn vor der "Einhausung" des Baues, einem schweren Eingriff in seine Architektur, wie er betonte, zu konsultieren, ja ihn nicht einmal verständigt.

Hätte Wien sich geändert, könnte man eine Geschichtslüge wie die eingangs zitierte verzeihen. Doch in Wien konnten weder die humanen, auf den Menschen zugeschnittenen stadtplanerischen Ideen Roland Rainers Wurzel schlagen noch die Klarheit und Transparenz des Loos-Schülers Richard Neutra, und auch Ernst A. Plischke, dem 1930 mit dem Arbeitsamt Liesing ein wahrer Geniestreich, ein Höhepunkt der österreichischen Moderne gelang, wurde nach der Rückkehr aus der Emigration zwar mit einer Professur versorgt, aber als Architekt kaum beschäftigt.

Das Verhältnis einer Stadt, eines Landes zu seiner Architektur und seinen Architekten drückt sich nicht in Lippenbekenntnissen aus und auch nicht in imageträchtigen Aktionen, ob man nun Maler ihre Fantasien vom Bauen verwirklichen oder Stars der Architekturzeitschriften unbewohnbare Häuser mit schiefen Wänden bauen lässt. Auch nicht darin, mit welchen Toten, die nicht mehr lästig werden können, man sich in Werbedrucksachen behängt. Es drückt sich im wachen Interesse für die Künstler und im Respekt für ihre Werke aus.

Und um den ist es in Wien miserabel bestellt. Wenn man nicht einmal einen Roland Rainer von der Veränderung eines seiner Bauwerke verständigt, ist es wirklich nicht verwunderlich, dass man sich keinen Steinwurf entfernt, auf der anderen Straßenseite, beim Werk eines unprominenten braven Routiniers der späten Fünfzigerjahre schon überhaupt um gar nichts mehr schert. Der riesige Bundesländerhof mit seinen angrenzenden Bauten war unauffälliger, braver Durchschnitt. Die Teilung der Fenster in einen schmalen und einen breiten Flügel war nicht nur funktional, sondern stand auch in einem ordentlichen Verhältnis zu den breit hingelagerten Baukörpern. Vor einigen Jahren wurden die Fenster gegen in der Mitte geteilte mit breiteren Rahmen getauscht. Damit wurden die Proportionen der Bauten völlig über den Haufen geworfen. Die Botschaft ist unmissverständlich: Entweder hielt man die ursprüngliche Architektur für so schlecht, dass sie korrigiert werden musste - oder das Aussehen der Gemeindebauten ist dem Rathaus völlig wurscht, wie man in Wien zu sagen pflegt. Da das Ergebnis der "Korrektur" ästhetisch ziemlich katastrophal ausfiel, kann wohl nur Letzteres zutreffen: Das beste Angebot oder der dem vergebenden Beamten angenehmste Anbieter erhielt den Zuschlag und konnte ästhetischen Scheiß produzieren.

Einer solchen Behörde soll ich glauben, dass sie um die Chancen trauert, welche die Rückkehr der emigrierten Architekten bedeutet hätte?

Übrigens, ganz nebenbei, doch handelt es sich nur scheinbar um eine Kleinigkeit, denn genau dort, in den Kleinigkeiten, gibt sich der herrschende Geist zu erkennen: Ein Rainer, ein Neutra hätten zweifellos daran gedacht, dass die am Morgen zur Arbeit eilenden Menschen den kürzesten Weg suchen, zumal, wenn man den nahenden Bus erst im letzten Moment sieht. Und sollten sie bei der Planung nicht dran gedacht haben, hätten sie aus den schräg über die rechteckigen Wiesen getrampelten Pfaden den richtigen Schluss gezogen und genau dort nachträglich Wege angelegt. Die Amtskappeln, die heute am Werk sind, suchten das Problem längere Zeit mit eisernen Sperrgittern zu lösen. An das Pflastern der Trampelpfade, die genau dort entstehen, wo Wege gebraucht werden, denken sie nicht. Dafür liest der Wiener in der U-Bahn, dies sei seine Stadt, Wien gehöre ihm. Dass ich nicht lache! (Helmut Butterweck, DER STANDARD/Printausgabe, 15/16.02.2008)