STANDARD: Im Frühling und an Montagen passieren die meisten Selbstmorde. Warum?
Kasper: Nur eines vorweg: Es ist nicht richtig, von Selbstmord zu sprechen, sondern von Suizid, denn Selbstmörder wurden früher vor den Kirchenmauern begraben. Diese Menschen sind aber keine Mörder, sondern leiden in einer Krisensituation an einer psychischen Erkrankung. Im Frühling stellt sich der Mensch auf die erwachende Natur um. Depressive schaffen diese biologische Umstellung aber nicht gut, sie haben keine Freude daran. Ähnlich ist der Wechsel vom Wochenende zur Arbeitswoche.
Gößler: Wenn man nicht einmal mehr aus dem Bett kommt, wird einem die Diskrepanz zur funktionierenden Gesellschaft bewusst.
Kasper: Der Gehirnstoffwechsel spielt dabei eine große Rolle. Laut neurobiologischen Untersuchungen haben Menschen, die sich suizidieren, einen niedrigen Serotoninspiegel. Das ist aber einer unserer wichtigsten Botenstoffe im Gehirn. Auch im Frühling geht das Serotonin nach unten.
STANDARD: Sind Depression und Suizid nicht eng miteinander verbunden?
Gößler: Fast alle psychischen Erkrankungen können zu Suizid führen. Zum Beispiel auch posttraumatische Belastungsstörungen, Schizophrenie oder bipolare Störungen. Aber Depressionen sind am engsten damit verknüpft. Auch Suchterkrankungen erhöhen das Suizidrisiko, weil Bremsmechanismen außer Kraft gesetzt werden, Überlegungen zu Entschlüssen werden und diese dann zu Taten.
Kasper: Bei psychischen Krankheiten sind die Mortalitätsraten erhöht. Hat jemand mehrere Erkrankungen - man spricht von Komorbidität - steigt das Suizidrisiko stärker an.
STANDARD: Gibt es auch eine genetische Disposition?
Kasper: Es gibt eine englische Untersuchung an etwa 500 Personen, wonach Menschen mit kurzen Allelen des Serotonintransporters im Vergleich zu jenen mit langen Allelen, die die robustere genetische Ausstattung sind, verstärkt zu Depressionen neigen und damit ein höheres Suizidrisiko haben. Die biologische Ausstattung ist nicht zu unterschätzen, trotzdem geschieht ein Suizid immer aus mehreren Gründen und steht im Kontext des biopsychosozialen Umfeldes.
STANDARD: Wenn jemand damit droht, sich umzubringen, macht er es nicht, sagt der Volksmund. Stimmt das?
Gößler: Das Gegenteil ist der Fall. Die Botschaft "Umbringen kann ich mich noch immer" heißt oft "Hör mir zu, es geht mir nicht gut". Solche Drohungen sollte man ernst nehmen. Also denjenigen darauf ansprechen, die eigene Betroffenheit zeigen und nachfragen, wie er das gemeint hat.
Kasper: Suizidgedanken sind Zeichen einer Krise. Ich bitte meine Patienten dann immer, sich zu erinnern, dass nach einer gewissen Zeit alles wieder viel besser ausschauen kann, sie sollen sich daran erinnern, dass auch vor wenigen Wochen noch alles anders war. Die Anteilnahme des unmittelbaren Lebensumfelds eines gefährdeten Menschen ist ganz wichtig. Also Freunde, Eltern, Verwandte, Lehrer.
Gößler: Oft lässt sich auch aus dem Risikoverhalten von Jugendlichen vieles ablesen. Es sollte einem nicht egal sein, wenn Jugendliche zum Beispiel immer wieder in Lawinenhänge fahren, denn da geht es um Risikoverhalten. Das sind Adrenalinjunkies, ihr Verhalten sollte durchaus hinterfragt werden.
STANDARD: Suizid ist nach Verkehrsunfällen die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen.
Gößler: Die Pubertät ist eine der größten Veränderung im Leben und auch eine Herausforderung. Ab dem 13. bis 15. Lebensjahr beginnen Jugendliche, sich selbst zu hinterfragen, sich selbst zu betrachten. Sie hegen aber auch Selbstzweifel, und gleichzeitig ist die Persönlichkeit sehr labil, sie sind unsicher. Kommt dann noch eine psychiatrische Erkrankung oder eine belastende Lebenssituation dazu wie Trennungserlebnisse, Traumatisierung, Missbrauch oder Frustration in der Schule, kann es gefährlich werden. Anders als Erwachsene setzen Jugendliche den Entschluss zum Suizid relativ spontan in die Tat um. Kommen Alkohol oder Cannabis dazu, kann es noch schneller gehen.
Kasper: Pubertät ist psychosozial und biologisch eine enorme Herausforderung. Umso wichtiger ist es, dass Jugendliche Strategien haben.
STANDARD: Wer kann helfen?
Gößler: Die Eltern, wobei es darauf ankommt, wie ihre Beziehung zu den Kindern vor der Pubertät war, denn Kinder versuchen sich dann ja gerade, von den Eltern zu lösen. Jugendliche in dieser Phase sind wankelmütig. Sie suchen Ideale. Vor allem: Die Kommunikation passiert oft nicht auf der Gesprächsebene, sondern zum Beispiel über die Musik. Für die Stabilisierung sind also Freunde sehr wichtig, aber auch Menschen, die viel Zeit mit ihnen verbringen. Die können besorgniserregende Veränderungen am ehesten bemerken und handeln. Am falschesten ist es, nichts zu tun.
STANDARD: Lehrer sind also wichtig ...
Gößler: Sie spielen eine große Rolle bei der Prävention von Suiziden, sind sich dessen aber oft nicht einmal bewusst. Sie haben die Chance, Veränderungen zu bemerken. Leider gibt es wenig Aufklärung und Information für Lehrer in dieser Hinsicht. Nach der Zeugnisverteilung kommt es leider immer zu Krisen und leider auch zu Suiziden.
STANDARD: Prävention ist also ganz entscheidend ...
Kasper: Das wäre wichtig, denn man darf ja nicht vergessen, dass Suizid auch ansteckend wirkt. Ein Mensch gilt als gefährdet, wenn sich in seinem Umfeld jemand suizidiert hat. Der Mechanismus dahinter: "Ich habe ein Problem, Suizid ist eine Lösungsstrategie." In jeder Stadt gibt es Orte, an denen sich Menschen vermehrt das Leben nehmen - da gibt es so eine Art Nachahmungseffekt.
Gößler: Für Menschen am Rande der Verzweiflung bricht sozusagen ein Damm, wenn sich jemand das Leben nimmt, den sie kennen, mit dem sie sich identifizieren oder den sie sogar idealisieren. Als sich Kurt Cobain, der Sänger der Gruppe Nirvana, umbrachte, hat er damit eine Suizidwelle ausgelöst.
Kasper: Diese Vorbildwirkung funktioniert traurigerweise auch über die Medien. Ein Film, der den Sprung eines Schülers aus dem Zug zeigte, hat in Deutschland dazu geführt, dass nach der Ausstrahlung die Suizidrate bei Schülern angestiegen ist.
STANDARD: Lassen sich Suizide durch Therapie verhindern?
Kasper: Nicht hundertprozentig, aber es ist sehr selten, dass wir einen Patienten verlieren, der in Therapie ist. Am meisten sind Menschen gefährdet, die nicht in Behandlung sind. Wir haben in Österreich nicht umsonst mehr Suizidopfer als Verkehrstote. Wir müssen die Suizidneigung als Antwort auf eine Lebenskrise begreifen und vermitteln, dass sich Krisen lösen lassen. Die Einweisung in eine Klinik steht ja immer ganz am Ende und meistens dann, wenn ein Suizidversuche bereits passiert ist. Die wirklich große Gefahr ist lange vorher. Da ist das gesellschaftliche Umfeld gefordert, sensibel zu sein.
Gößler: Das gilt auch bei Jugendlichen. Doch da liegt für das Umfeld die Kunst gerade darin, zu erkennen, was eine Krise ist.
STANDARD: Wie kann eine Bezugsperson die Gefahr erkennen?
Kasper: Erwin Ringel hat das präsuizidale Syndrom in drei Zügen so beschrieben. Erstens: Es besteht eine Einengung, ein Mensch redet nur mehr Negatives - das ist eine sogenannte dynamische Einengung - oder hat keinen Beruf, kein Heim, keinen Partner mehr - das ist die situative Einengung. Betroffene können das Positive im Leben nicht mehr wahrnehmen. Zweitens: Aggressionen gegen sich oder andere, mit denen der Mensch nicht mehr zurechtkommt. Das kann einerseits Wut sein, die nicht hinausgelassen wird sein, ist aber gleichzeitig eine Art Hilflosigkeit. Der dritte Warnhinweis für Suizidgefahr sind bestehende Suizidfantasien.
STANDARD: Was sagt die Suizidrate über eine Gesellschaft aus?
Kasper: Wenn jemand wissen will, wie eine Gesellschaft ist, muss er nur in eine psychiatrische Klinik schauen. Wird mit den Menschen dort schlecht umgegangen, sind auch gesellschaftliche Strukturen nicht intakt.
STANDARD: Was ist die Verantwortung der Gesellschaft?