... dass er sich umdrehte, seine vier Buchstaben entblößte, und den Schiedsrichter zu einer seit Goethe vielzitierten Dienstleistung aufforderte. Wir Schüler empfanden dieses legendäre "m'orsch" als mutig, aber angemessen, waren doch Schiedsrichter Despektspersonen, Unsympathler, potenzielle Päderasten. Ihre ganze Autorität waren eine Pfeife und die lächerliche Dress mit kurzer Hose.

Schiedsrichter? An meiner Schule übernahmen diesen Part die Aufpassertypen, die Schriftführer des Klassenbuches, die sich dauernd bei den Lehrern einweimperlten, ihnen alles erzählten, wer schon rauchte, schwänzte und so weiter. Den meisten Kindern freilich waren Schiedsrichtertypen verhasst. Manche zeigten es mit Fäusten, rächten an ihnen, dass gerade die österreichischen Mannschaften immer benachteiligt wurden. Ist nicht der Glaube an die eigene Benachteiligung einer der allermenschlichsten, schon in der Bibel eingefahrenen Züge?

Niemand hängt sich Poster mit lebensgroßen Schiedsrichtern in seinem Zimmer auf, mit den Schiri-Schuhen, -Stutzen, -Leibchen betreibt man keinen Fetischismus, nicht einmal die Pfeifen sind als Sammlerobjekte sonderlich begehrt. Während die Spieler untereinander Trikots tauschen, bleibt der Schiedsrichter allein in seiner verschwitzten Kluft. Der Schiedsrichter ist die geduldete, sexuell eher reizlose Instanz, das Pfiff gewordene Regelwerk. Wie viele Frauen haben sich schon je in Schiedsrichter verliebt?

Schiedsrichter zu sein ist schwierig. Wie bereitet man sich vor? Gibt es Trainingscamps für Schiedsrichter? Ausgewogene Ernährung? Michael Kohlhaas empfiehlt sich zur Lektüre, aber in welche Konzerte oder Filme dürfen Schiedsrichter? In griechische Tragödien?

Staut sich in Schiedsrichtern etwas an wie bei manchem Zölibat? Beidbeinig müssen sie sein, einen Mittelscheitel tragen, und sie dürfen niemals nur auf einer Seite schlafen. Schiedsrichter sind Zerrissene, immer um Gerechtigkeit bemüht. Ihr System ist die Objektivität - ein Teufelskreis.

Was passiert etwa, wenn ein Schiedsrichter ohne Absicht ein Tor schießt, und es sich selbst aberkennen muss, weil es sonst null zu null zu eins steht, er also gewinnen würde? Darf er einem frechen Schüler auf das Entblößte hauen? Sich an einem beleidigenden Publikum rächen? Nein! Ein Schiedsrichter wird immer einsam sein, niemand wird ihn lieben, keiner je verstehen, niemand wird ihm danken. Ungerecht. (Franzobel; DER STANDARD Printausgabe 17. März 2008)