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Beispiel für "marktwirtschaftlich" ausgetragene Konflikte mittels Gewalt: der Ismailowo-Markt in Moskau.

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Helge Mooshammer: Auch Flohmärkte sind Gradmesser des Wandels.

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Wien/Brcko - Gewalt, Geld, Sex. Gäbe es den Arizona-Markt nicht, man müsste ihn erfinden: als ideales Objekt zur Erforschung menschlichen Zusammenlebens; als praktisches Beispiel und zugleich als Sinnbild schlechthin für die Möglichkeiten und Grenzen des Marktes.

Jeder Markt, der an einem bestimmten Platz zu einer bestimmten Zeit entsteht und sich verändert, spiegelt die jeweilige gesellschaftliche Situation wider. Und da fließt alles hinein: soziales und kulturelles Umfeld, Geschichte, Wirtschaftsinteressen. Aber löst der Markt auch quasi von selbst alle Probleme, die er widerspiegelt? Und wenn, wie? Oder schafft er auch neue Probleme, die er dann selbst nicht mehr zu bewältigen vermag?

Diesen Fragen geht das EU-Forschungsprojekt "Networked Cultures" nach, an dem die Österreicher Helge Mooshammer und Peter Mörtenböck federführend arbeiten. Mitte April werden die Ergebnisse in Buchform unter demselben Titel erscheinen. Mooshammer ist Architekt, lebt seit zehn Jahren in London und ist derzeit Research Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien im Rahmen des Forschungsschwerpunktes "Die kulturellen Paradoxien der Gobalisierung". Mörtenböck ist Universitätsprofessor für Visuelle Kultur an der TU Wien.

Mooshammer hat sich drei Märkte ausgesucht: den Ismailowo-Markt in Moskau, einen Straßenmarkt im Istanbuler Stadtteil Topkapi - und eben den Arizona-Markt nahe der nordostbosnischen Stadt Brcko. Dieser ist ein Produkt des Bosnienkriegs (siehe Karte und Wissen).

Die 2500 Standplätze auf rund 40 Hektar Fläche werden jährlich von drei Millionen Menschen besucht, die hier fast alles erwerben können, was käuflich ist. Geschätzte 100.000 Menschen leben direkt oder indirekt vom Markt, manche blendend, viele ganz gut, manche mehr schlecht als recht. "Für die einen ist er ein Modell für multiethnische Gemeinschaft, für andere die größte Open-Air-Shoppingmall auf dem Balkan, für dritte wiederum die Hölle auf Erden", sagt Mooshammer.

Der Raum Brcko war wegen seiner strategischen Lage an einer wichtigen Nord-Süd-Route besonders umkämpft zwischen serbischen, kroatischen und bosnisch-muslimischen Einheiten. Nach dem Friedensschluss von Dayton 1995 wurde am Schnittpunkt der drei ethnischen Gruppen ein Checkpoint der internationalen Friedenstruppe eingerichtet. Das dort stationierte US-Kontingent nannte ihn entsprechend seinem Gebietscode Arizona.

Wegen der räumlichen Nähe der drei Siedlungsgebiete wurde der Checkpoint schnell zum Treffpunkt und Umschlagplatz für Waren und Nachrichten. Um ein Signal für interethnische Versöhnung zu setzen, errichtete die lokale Kommandantur 1996 eine Freihandelszone. Daraufhin begannen sich Händler mit ihren Familien anzusiedeln - Beginn eines "selbstorganisierten Urbanisierungsprozesses" (Mooshammer).

Aber die hoffnungsvollen Ansätze entwickelten sich in eine Richtung, die von der internationalen Gemeinschaft so unerwünscht wie mitverschuldet war: Das wahre Geschäft wurde schon bald mit Prostitution und Menschenhandel gemacht. Den Markt dafür lieferten die 30.000 Mann der Bosnien-Friedenstruppe großteils selbst. Nach Schätzungen wurden bis 2001 zwischen 5000 und 20.000 Frauen durch den Raum Brcko geschleust.

Dass der Markt dieses Problem auf eine mit Menschenrechten und Menschenwürde vereinbare Art lösen würde, war auszuschließen. Die Situation wurde untragbar. Im Herbst 2000 verkündete die internationale Gemeinschaft ein Maßnahmenpaket zur Beendigung der illegalen Aktivitäten: Abtragen des bestehenden Marktes, Ausschreibung eines Masterplans zur Wiedererrichtung auf dem Feld daneben.

Forcierte Globalisierung

Den Zuschlag erhielt ein italienisch-bosnisch-serbisches Konsortium namens ItalProject. Es baute die neuen Markthallen, für die es laut Vertrag 17 Jahre Mieten kassieren kann, es regelt die Öffnungszeiten und betreibt einen privaten Sicherheitsdienst. Und gegenüber lässt ItalProject die "Trade City of China" entstehen - Ausdruck forcierter Globalisierung: Ein Themen-Shoppingcenter soll über hundert Geschäfte beherbergen, die ihre Waren direkt aus China beziehen und an Einzel- und Großhändler weiterverkaufen.

Rund um die Shoppingmall wächst eine Stadt. Aber die Hoffnung, dass sie ein Modell für selbstorganisierte Urbanisierung werden könnte, hat sich zumindest bisher nicht erfüllt. Mooshammer spricht von einer "Privatisierung des öffentlichen Raumes". Eine Demonstration auf dem Marktgelände etwa würden die Betreiber nicht zulassen. Für besonders problematisch hält es der Forscher, dass die Hintermänner des Konsortiums nicht bekannt sind.

Andererseits wird die stabilisierende Kombination von Konsortium und internationaler Oberaufsicht, unter der der Brcko-Distrikt nach wie vor steht, im Vergleich zum Moskauer Ismailowo-Markt deutlich: Denn dort, so Mooshammer, "werden Streitfälle mit Gewalt ausgetragen."

Generell sind Märkte Gradmesser für gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen. Dabei erfüllen sie auch "eine gesellschaftliche Ausgleichsfunktion, in der der Einzelne überlebt", sagt Mooshammer. Beispiele dafür seien unsere Flohmärkte, die Immigranten mit Unterstützung ihrer jeweiligen kulturellen Netzwerke ein Einkommen sichern. Das Immigrationsproblem insgesamt lösen können sie freilich nicht. Denn derartige Konflikte signalisieren einen gesamtgesellschaftlichen Wandel. Und den kann man nicht privatisieren. Oder, um es mit einem Lieblingsbegriff der Rationalisierer zu formulieren: outsourcen. (Josef Kirchengast/DER STANDARD, Printausgabe, 18.3.2008)