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Kanan Makiya: Die USA ließen ihn die Regimedokumente nicht einsehen.

Foto: AP/Swarup
Kanan Makiya, Architekt aus Bagdad, half 2003 den USA, die Irak-Invasion vorzubereiten. Heute hat er sich tiefenttäuscht aus dem Irak zurückgezogen. Im Telefoninterview spricht er auch über seine eigenen Fehleinschätzungen.

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STANDARD: Wo stehen Sie mit Ihrer Arbeit der Dokumentation der Regimeverbrechen unter Saddam Hussein?

Makiya: Die Dokumente, die wir in der Hand haben, sind fast komplett eingescannt, aber noch nicht mit Index versehen - und da es sich meist um Handschriften handelt, kann man auch nicht mit einer Suchfunktion arbeiten. Das heißt, wenn man etwas sucht, ist das die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen.

Wir haben zehn bis elf Millionen Seiten, aus unterschiedlichen Dokumentenbeständen. Auf die sogenannten BRCC-Dokumente bin ich selbst 2003 im Keller des "Baath Regional Command"-Gebäudes in Bagdad gestoßen, es sind zwischen drei und vier Millionen Seiten. Angefangen hatte es mit den Dokumenten, die den Kurden während ihres Aufstands nach dem Golfkrieg 1991 in die Hände fielen, später kamen jene dazu, die die abziehenden Iraker in Kuwait zurückließen, und nach 2003 Dokumente von Individuen. Und wir zeichnen auch Oral History (erzählte Geschichte) auf.

STANDARD: Wurden Ihre Dokumente beim Saddam-Prozess benützt?

Makiya: Leider sehr beschränkt, wir hatten uns sehr darum bemüht. Aber wir haben den Anfal-Prozess (wegen der Verbrechen an den Kurden, Anm.) mit vorbereitet.

STANDARD: Das klingt nicht so, als ob Sie mit dem Saddam-Prozess glücklich wären.

Makiya: Er war eine versäumte Gelegenheit - und die Hinrichtung eine Katastrophe. Aus Kostengründen - eine US-Entscheidung - wurde der Prozess rund um Zeugen gebaut und nicht auf Dokumente. Die USA sind im Besitz von weiteren 100 Millionen Seiten, die ich nie einsehen durfte - die die Amerikaner einscannen, die sie jedoch nicht verstehen.

Hätte man Dokumente herangezogen, hätte der Prozess anders ausgesehen: ein Prozess gegen das System und nicht nur ein Prozess wegen eines Vorfalls in Dujail 1982. Man hätte den Prozess nicht nach Gemeinschaften und Ethnizität und Konfession aufteilen müssen, sondern hätte die Regimeverbrechen als Ganzes gesehen. Aber dazu braucht man Zeit und Vorstellungsvermögen.

Die Gelegenheit, die Beschaffenheit des Regimes von Saddam Hussein der arabischen und islamischen Welt zu erklären, wurde so versäumt. Und dann die Exekution: Sie wurde - und mit einigem Recht - von vielen als konfessionelle Entscheidung empfunden. Ihn allein wegen des Dujail-Falls (der Verbrechen gegen ein schiitisches Dorf behandelte, Anm.) hinzurichten, hat wie eine Abrechnung, nicht wie Gerechtigkeit ausgesehen.

STANDARD: Heute gibt es ein Gezerre um die Hinrichtungen von zum Tode Verurteilten.

Makiya: Früher haben die Sunniten in der Regierung die Prozesse mitgetragen, ich habe einiges Verständnis dafür, dass sie das nicht mehr tun.

STANDARD: Haben Sie aus Ihren Forschungen neue Erkenntnisse über das Regime gewonnen?

Makiya: Ich bin sicher, dass wir viel Neues lernen, wenn alles absorbiert ist. Für mich persönlich kann ich sagen, dass ich, obwohl ich mich so mit dem Regime beschäftigt habe, völlig unterschätzte, was es für die irakische Gesellschaft bedeutete: Wie es das Denken einer Gesellschaft, den Umgang der Gesellschaft innerhalb und nach außen, ihr ganzes Verhalten schädigte. Das Regime wurde gestürzt, diese Verhaltens- und Denkstrukturen nicht.

Darüber müssen wir noch viel lernen. In gewisser Weise ist das ein Argument gegen den Krieg, jedenfalls hat es eine große Rolle gespielt bei allem, was danach schieflief. Und noch etwas: Ich hatte nicht verstanden, wie zerrüttet der Staat schon war. Ich habe die Schäden durch die Sanktionen unterschätzt: Die "Republik der Angst" war nicht mehr da, ein krimineller Staat hatte den totalitären ersetzt.

STANDARD: Wer das vor 2003 geschrieben hat - wie ich selbst -, wurde von Kriegsbefürwortern als Verharmloser angegriffen.

Makiya: Auch ich habe so etwas geschrieben, aber es in der Praxis zu sehen, war doch etwas anderes. Kein Wunder, dass es 2003 keinen Krieg gab, das ist einfach alles zusammengebrochen.

Und dann wurde alles noch einmal verschlimmert durch zwei Entscheidungen, für die ich teilweise verantwortlich gehalten werde: die Demobilisierung und die Entbaathifizierung. Ich hatte ja vor der Invasion darüber geschrieben, habe aber nicht gemeint, dass man die Armee einfach nach Hause schicken soll, eine halbe Millionen ohne jeden Groschen. Ich dachte daran, sie in eine Kraft zum Wiederaufbau umzuwandeln. Und die Entbaathifizierung: Sie wurde zur Entsunnifizierung, und das haben die Iraker selbst gemacht, nicht die USA.

Die Kommission war McCarthy-Stil: Da wurden Individuen auf eine schwarze Liste gesetzt, anstatt dass man versucht hat, die Ideologie loszuwerden. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich die neue politische Klasse im Irak so verantwortungslos benimmt, besonders die Schiiten - ich bin doch selbst einer. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.3.2008)