Stefanie Carp: "In jedem Land, in jeder Kultur gibt es, wenn man Glück hat, ein oder zwei Jahrzehntkünstler. Darum auch reist man herum und versucht, sie aufzuspüren."

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"Ein Festival darf nicht machen, was die Leute das ganze Jahr über sehen." Stefanie Carp im Gespräch mit Ronald Pohl


Standard: Im Vorwort des aktuellen Festwochen-Katalogs wird eine interessante Perspektive reklamiert: Von der Warte der Zukunft aus soll der Blick auf die Gegenwart gerichtet werden. Setzt das nicht geradezu eine gewagte Zuversicht voraus?

Carp: Das ist zunächst ein literarischer Trick, der oft angewandt wird. Bei Tschechow, in den Drei Schwestern, finden wir den Satz: "Was werden Menschen in der Zukunft von uns heute Lebenden denken?" Mich interessiert am Thema Zukunft das Hanebüchene daran: In der Theaterkunst muss man immer ein wenig hanebüchen werden, in Konzeption und Themenstellung. Außerdem will ich mich einfach einmal wieder für "Veränderung" interessieren dürfen.

Standard: "Darf" man das überhaupt noch?

Carp: Es scheint seit 1989 verboten: Es kann aber nicht alles so bleiben, wie es jetzt gerade läuft. Theater lebt aber stark von der Erinnerung. Wenige Theaterkünstler beschäftigen sich mit Konzeptionen für die Zukunft – Kunst kann das ja auch gar nicht, außer in Bildentwürfen, die rasch langweilig werden. Theater geht von empirisch geprägten Entwürfen aus. Da kann man Jetziges in eine angenommene Zukunft verlängern – wie wir das bei "Schutz vor der Zukunft" vor Jahren gemacht haben. Ich habe mich mit beiden Aspekten beschäftigt: mit der Recherche, an welchen Punkten der Welt leben die Menschen zurzeit, welche Erfahrungen machen sie – welche anderen Erfahrungen würden sie lieber machen? Und: Wie würde eine mögliche zukünftige Spezies auf unsere heutige Zivilisation schauen?

Standard: Wir beglückwünschen einander schon heute zu unserer Zukunft?

Carp: Ein solcher Rückblick muss ja nicht zwangsläufig positiv ausfallen.

Standard: Kam den Künsten nicht ehedem die aufklärerische Aufgabe zu, den menschlichen Fortschritt zu befördern?

Carp: Daran kann man nicht festhalten. Man kann die Möglichkeit reklamieren: In welcher Zukunft möchte ich leben? Was möchte ich an der Gegenwart verändern? Zum Zweiten besitzt ein Festival die Verpflichtung, die neuesten, vielleicht sogar "die" zukünftigen Theaterformen zu präsentieren und zu registrieren, wo und in welche Richtung sich das Theater auf internationaler Ebene hinbewegt. Man könnte natürlich auch sagen: Ein Festival besitze die Verpflichtung, Theater als Museum zu zeigen.Tun wir aber nicht.

Standard: Sie blicken der Zukunft der dramatischen Künste also insgesamt optimistisch entgegen? Setzt das nicht ein grenzenloses Vertrauen in die "Belastbarkeit" der Kunstform Schauspiel voraus?

Carp: Doch, ja. Sonst könnte ich ja auch jede andere Kunstform infrage stellen. Eine solche Fragestellung wäre mir aber auch zu abstrakt.

Standard: Das Theater eröffnet also Ausblicke in die Zukunft? Um auf die Gegenwart zurückzuschauen?

Carp: Das kann Theater, mal besser, mal schlechter. Es muss sich eine Fremdheit und eine Distanz zu seinem Gegenstand bewahren – eine Distanz zu seiner eigenen "Gegenwart" berücksichtigen. Nicht, dass sich das alle zu den Festwochen eingeladenen Künstler auch wirklich vorgenommen hätten. Es gibt aktuell eine starke Tendenz zum dokumentarischen oder auch semi-dokumentarischen Theater, die mich interessiert.

Standard: Ein Hunger nach Erfahrung?

Carp: Ein Bedürfnis nach Erfahrungsaustausch, nach Vergewisserung. In einer Situation der Verunsicherung muss man rücksichtslos den eigenen Erfahrungsbestand sichten.

Standard: Ein Festival wie die Wiener Festwochen wäre also ein geeignetes Instrument, um die starke Tendenz der Selbstbefangenheit, des Selbstbezugs des Theaters aufzusprengen?

Carp: Sie meinen die Debatte um das "Regietheater"?

Standard: Regietheater ist kein sehr geeigneter Begriff. Aber es gibt doch eher läppische Beiträge, die sich mit wenig produktivem Gewinn vornehmlich an ein Insider-Publikum wenden.

Carp: Natürlich gibt es läppische Produktionen. Die würde ich nur niemals einladen. Ich bin ja in der Position, auszuwählen. In jedem Land, in jeder Kultur gibt es, wenn man Glück hat, ein oder zwei Jahrzehntkünstler. Darum auch reist man herum und versucht, sie aufzuspüren. Ich sehe auf der ganzen Welt 90 Prozent Läppisches und zehn Prozent sehr schöne Arbeiten, die ich aber meistens nicht einladen kann, weil sie nicht hierher transponierbar wären. Weil sie falsch gelesen und dann ungerecht beurteilt würden.

Standard: Haben Sie im Sinn, programmatische Neujustierungen vorzunehmen?

Carp: Ich denke nie taktisch. Ich habe mich gefragt: Was interessiert mich – um welche Themen herum bündele ich meine Interessen? Alles Weitere würde eine Strukturveränderung der Festwochen nach sich ziehen. Die ich vielleicht auch anstreben würde.

Standard: Was wäre das für Sie theoretisch Wünschenswerte?

Carp: Es gibt drei Varianten – was ich erst jetzt im Nachhinein erfahre. Warum macht man ein Festival – und was will eine Stadt von einem Festival? Eine mögliche Antwort wäre: Ein Festival darf nicht machen, was die Leute bereits das ganze Jahr über sehen. Es gibt sehr gutes Theater in Wien, "normales" Stadttheater, was nichts Abwertendes meint. Man muss Internationalität beanspruchen – und neue Formen. Solche, die das Schauspiel weiterführen. Ein zweites Prinzip wäre: Das Festival lädt internationale, eminent wichtige Künstler ein und fordert sie auf, vor Ort zu arbeiten. Man muss vom Geld ausgehen, das zur Verfügung steht, und von der nichtvorhandenen Infrastruktur zum Produzieren. Man guckt nach neuen Spielorten und so weiter. Das würde mich für die Zukunft sehr reizen – man kann die Produkte nur dann auch gar nicht weiterverkaufen. Das widerspräche jedem ökonomischen Denken, wäre aber der schönste Anspruch eines Festivals. Das könnte ich mit einem halben Vorbereitungsjahr nicht leisten. Etwas Prozesshaftes, Diskursives. Das fände ich zweifellos sehr erstrebenswert. Die Erwartungen an die Wiener Festwochen sind ja auch sehr unterschiedlich, wie ich feststelle.

Standard: Eine Art "Wunschmaschine"?

Carp: Ja, natürlich. Und es gibt den Anspruch, "große" Gastspiele zu erleben. Den wir auch gerne erfüllen. Denken Sie an das Gastspiel von Ariane Mnouchkine, die mit Les Éphémères etwas Neues, für sie Unerhörtes bei uns zeigen wird. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20.3.2008)