Grafik: DER STANDARD

Gauchos wissen, wie man sich zu verhalten hat, wenn Rindviecher wild werden.

Foto: lahorqueta.com

Die Pferde sind stämmige Criollos mit dickem Hals und Bürstenmähne.

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Überlebenswichtiges zuerst: Angenommen, Sie kommen einer Herde Rindviecher in die Quere. Um wen würden Sie den größeren Bogen machen: um eine wütende Kuh oder einen missgelaunten Stier? Sehen Sie, schon falsch geraten. Es ist die Kuh, die gefährlicher ist. "Ist doch sonnenklar: Stiere schließen die Augen, wenn sie attackieren", erklärt Miguel, der Gaucho. Man sieht ihm an, dass er sich wundert, wie diese unbedarfte Person, die neben ihm reitet (also ich) bisher am Leben geblieben ist. "Wenn du einen Haken schlägst, kannst du den Stier abhängen, weil er blind weiterrennt. Die Kuh hingegen hat die Augen weit offen und ändert die Richtung, wenn du sie änderst."

Die Frage, ob man das in Österreich beliebte Kinderspiel "Blinde Kuh" also in "Blinder Stier" umtaufen müsse, quittiert Miguel mit einem desinteressierten Nicken. Er ist 26 und ein Sohn der weiten argentinischen Pampa. Was kümmert ihn Österreich? Miguel war noch nicht einmal in Buenos Aires, und das liegt höchstens vier Autostunden entfernt. "Ich hab's im Fernsehen gesehen, das reicht", nuschelt er, den Stummel zwischen den Lippen. "Sind mir zu viele Leute dort."

Auf der "Isolina", der Rinderfarm seines Chefs, stehen Tier- und Menschenzahl hingegen in idealer Proportion zueinander, findet Miguel: Dort leben 700 Kühe, 40 Stiere, 650 Kälber, 100 Schafe, 60 Hühner, 20 Pferde, zwei Katzen, ein Schäferhund, aber nur vier Menschen: die Besitzer Jorge und Maria Louge sowie die Köchin Mirta und ihr Mann Daniel, der Farmarbeiter. Die beiden Hausmädchen und die Gauchos übernachten im Dorf.

"Estancias" nennen die Argentinier solche Gutshöfe. Auf manchen von ihnen kann man sich einmieten, für ein Wochenende oder auch nur einen Nachmittag. Keine Sorge: Mit Urlaub auf dem Zwei-Blumen-Bauernhof (Zirbenholz, Plastikduschkabine, Servicekatastrophe) hat das nichts zu tun. Viele Estancias sind prachtvolle Herrenhäuser, gebaut in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts, als die argentinische Landwirtschaft blühte und das Land in den Wirtschaftsstatistiken als eines der reichsten der Welt geführt wurde.

Danach ging's mit dem Wohlstand bergab - was aber für die Häuser nicht das Schlechteste war. Fragwürdige Modernisierungsschübe (Spannteppiche, Einbauschränke, 70er-Jahre-Bäder) blieben ihnen erspart. Die mit Antiquitäten und schwerem Tafelsilber vollgestopfte "Isolina" könnte jederzeit als Kulisse für einen "Miss Marple"-Film herhalten. Man bräuchte nicht einen einzigen Schrank zu verrücken. Folgerichtig sind auch die Sitten "british", also: Landadel. Am Nachmittag wird Tee mit Zitronengebäck serviert, und wenn neue Gäste ankommen, stehen die uniformierten Hausmädchen zwecks Begrüßung auf der Treppe Spalier. "Die Argentinier sind Italiener, die Spanisch sprechen und gerne Engländer wären", lästerte einst Nationaldichter Jorge Luis Borges.

Im Fall der Familie Louge stimmt das nicht ganz, Urgroßpapa Stéphane wurde nämlich in den französischen Pyrenäen geboren. 1854, da war er gerade vierzehn, kratzte seine Familie ihr ganzes Erspartes zusammen und kaufte dem Buben eine Schiffsfahrkarte nach Buenos Aires. Er kehrte nie mehr zurück. Nach zwanzig Jahren schickte er einen Brief mit der Bitte, man möge ihm eine passende Braut nachsenden. Ihr Aussehen sei ihm egal. Gesund müsse sie sein. Und arbeitsam.

Die Braut, eine dralle 21-Jährige mit ernster Miene, erwies sich als fleißig, wie bestellt, und zur Draufgabe noch als fruchtbar. Als Señor und Señora Louge starben, hinterließen sie acht Kinder, zwei Getreidemühlen, eine Kalkfabrik sowie die Estancia "Isolina" mit 80.000 Hektar Grund. Davon sind heute nur mehr 1300 Hektar übrig; der Rest zerfiel, weil die Louges in jeder Generation das Erbe gerecht auf alle Kinder verteilten.

Jorge - grauer Bart, rote Baskenmütze, Schaftstiefel - ist der aktuelle Gutsherr auf der "Isolina". Was seine Familie angehe, werde er auch der letzte sein, prophezeit Jorge düster. Seine drei Kinder haben studiert (Fächer wie Medizin oder Informatik, also nichts, was man zur Rindviehzucht gebrauchen könnte) und sind bei der Gelegenheit gleich dem Stadtleben verfallen. Sie kommen nur mehr in den Ferien heim.

"Das alles hier geht mit mir zugrunde", grummelt Jorge. "Das war's dann. Noch ein paar Jahre und: finito." Der Patron hat schlechte Laune heute. Seine jüngste Tochter hat gerade telefonisch kundgetan, dass sie mit ihrer neuen Flamme nach Uruguay auszuwandern gedenkt. Der Fleischpreis ist im Keller. Und ein paar Dutzend seiner Kühe haben in der Nacht den Elektrozaun niedergetrampelt und fressen sich nun seelenruhig durch Nachbars Sojafeld.

Kein guter Vormittag für Jorge. Er pfeift dem Schäferhund und brüllt nach Miguel. Die Pferde, stämmige Criollos mit dickem Hals und Bürstenmähne, dösen hinterm Gesindehaus, noch müde vom morgendlichen Inspektionsritt. Sie schwanken leicht, genau wie die Eukalyptusbäume über ihnen. "Vamos, vamos!" Jorges ungeduldige Stimme fegt den vormittäglichen Frieden von der Estancia. Sogar die Hausgäste, ein Kinderarzt und eine Schuldirektorin aus Buenos Aires, die wie Maiskolben am Pool rösten, heben benommen die Köpfe und rollen sich auf die andere Seite.

Gauchos und Gutsherr galoppieren über die Weiden, hin zu Nachbars Sojafeld. Die Kühe stellen schuldbewusst das Futtern ein. Sie setzen sich fast von selbst in Trab. "Fuera, vacca, fuera!", schreien die Männer. "Raus da, Kühe, raus!" Wenn das Rindvieh mitspielt, ist das Treiben gar nicht so schwer: Einer reitet links hinten, einer rechts, und einer öffnet vorn den Elektrozaun. Leider spielt das Rindvieh nicht immer mit. Drei renitente Kühe versuchen, rechts auszubrechen. Eine erwische ich, die zwei anderen, graubraune Dickerchen, sind mir zu flink. Miguel rast wütend hinterher, in der rechten Hand die Lederpeitsche. Heute Mittag gibt es Asado, da will keiner zu spät kommen.

Das Asado ist die argentinische Variante der Grillparty; ein nationales Ritual, rettungslos mit Bedeutung überfrachtet. Schon Tage davor wird von nichts anderem gesprochen. Der Asador, der Grillmeister, benimmt sich wie ein Hohepriester, wird aber von Nervosität verzehrt. Wird die Glut halten? Wird der Sauschädel knusprig geraten? Manche zerbrechen am Erfolgsdruck und müssen auf die Couch.

Beeindruckend am Asado sind genaugenommen nur die Fleischmengen. Sogar Volksschulkinder schaffen mühelos ein halbes Kilo Kuhripperln. In guten Zeiten isst jeder Argentinier bis zu 100 Kilo Rindfleisch im Jahr, also fast zwei Kilo pro Woche. Selbst in wirtschaftlichen Flautejahren sind es noch immer 62 Kilo. Gewürze, Soßen und Beilagen empfindet man eher als störend. Maria, die muntere Hausherrin der Isolina, lässt zwar Salate auffahren. Aber das geschieht hauptsächlich wegen der Gäste aus Übersee.

Die müssen nicht eigens darum bitten. Maria schafft mühelos, was Legionen von Hotelmanagern vergeblich anstreben: Sie versorgt ihre Gäste mit jener altmodischen Aufmerksamkeit, die einem sofort das Gefühl gibt, man sei ein lang verschollener Verwandter, der endlich einmal zu Besuch gekommen ist. Bei Tisch wird nicht geredet, sondern konversiert; Maria passt auf, dass auch die Stillen zu Wort kommen. Quengelnde Kinder werden von ihren Eltern weggelockt und mit agrarischen Beschäftigungstherapien (Kälber tränken, Katzen füttern, Kräuter wässern) abgelenkt. Patron Jorge, wieder gutgelaunt, zuckelt hoch zu Ross durch den Park und zieht seine bravste Stute am Zügel hinter sich her. Gäste, die nicht reiten können, bekommen eine exklusive Einführung. Schön sind sie nicht, die Criollo-Pferde, mit ihren dicken Hälsen und ihren kurzen Beinen. Aber brav. Und zäh. "Bestaune den Großen, aber sattle den Kleinen", sagt eine alte Gaucho-Weisheit.

Selbiges sei auch bei Männern ratsam, meint die Schuldirektorin, die noch immer am Pool liegt und zwinkert. Der Gatte (geschätzte 1,68 Meter) zwinkert aufgeräumt zurück. Im Esszimmer richtet das Hausmädchen den Teetisch. Hinter dem Haus muht Pablo, das zahme Stierkalb. Der morgige Tag wird genauso verlaufen wie der heutige und der gestrige. Man begreift, warum die Kinder des Hauses anderweitig Abenteuer suchten. Aber einen kurzen Urlaub lang kann das Landleben idyllischer nicht sein. (Heidi Lackner/DER STANDARD/Rondo/21.3.2008)