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Cave canem: Ein Tier, vor dem sich Redakteure fürchten.

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"Der Schwachsinn, der früher nie daran gedacht hätte, aus seinem Privatleben hervorzutreten, hat eine Gelegenheit für die Unsterblichkeit entdeckt": Karl Kraus (um 1930).

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Dem tellurischen Erdbeben folgte der aufgeschreckte Grubenhund: Wie Karl Kraus und sein Schüler Arthur Schütz die Falschmeldung zu einem Instrument der Medienkritik machten. Von Ernst Strouhal.

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Was war das doch für ein Erinnern in den letzten Monaten! Die Acht an der letzten Stelle der Jahreszahl gewährte Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung und Mutter der Musen, eine prächtige Konjunktur. Auf 1918 fiel ein flüchtiger Blick, 1938 zog vorbei, sogar 1968 wurde am Wunderblock des Gedächtnisses wieder sichtbar gemacht. Die Feste werden eben gefeiert, wie sie fallen, auch wenn es sich um schräge Geburtstage handelt, auch wenn es herzlich wenig zu feiern gibt.

Doch im Taumel der Erinnerung wurde, obwohl ein runder Hunderter, auf 1908 einfach vergessen. Ein hermeneutischer Skandal sondergleichen! Nein, gemeint ist nicht das 60-jährige Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph I., auch nicht die Erfindung der Kapselluftpumpe durch Wolfgang Gaede, zu erinnern ist an ein seltsames Wiener Erdbeben, das heute gleichermaßen vergessen wie allgegenwärtig ist.

Im Jahr 1908 erschien in der Neuen Freien Presse ein Leserbrief, in dem aus der Glockengasse 17 Mitteilung an die Redaktion erstattet wurde. Ein Zivilingenieur J. Berdach berichtete darin von einer privaten Erdbebenbeobachtung. Als Berdach gerade „Ihr hochgeschätztes Blatt las“, verspürte er plötzlich ein Zittern in der Hand: „Da mir diese Erscheinung von meinem langjährigen Aufenthalt in Bolivia, dem bekannten Erdbebenherd, nur zu vertraut war“, schreibt Berdach, „eilte ich sogleich zu der Bussole, die ich seit jenen Tagen in meinem Hause habe. Meine Ahnung bestätigte sich, aber in einer Weise, die von meinen Beobachtungen seismischer Tatsachen in Bolivia durchaus abwich. Während ich nämlich sonst ein Abschwenken der Nadel nach Westsüdwest wahrnehmen konnte, war diesmal in unzweideutiger Weise eine Tendenz nach Südsüdost feststellbar. Allem Anscheine nach handelte es sich hier um ein sogenanntes tellurisches Erdbeben (im engeren Sinne), das von den kosmischen Beben (im weiteren Sinne) wesentlich verschieden ist.“

Drei Erschütterungen

Der Unterschied zwischen dem tellurischen und kosmischen Beben besteht nach Ing. Berdach vor allem in der „Variabilität der Eindrucksdichtigkeit“: Während seine Kinder im Nebenzimmer nichts vom Erdbeben bemerkten, verspürte hingegen seine Frau, belehrt Berdach die Redaktion und ihre Leser, deutlich „drei Erschütterungen“.

Den Brief hatte Karl Kraus verfasst, der in der Neuen Freien Presse seit Jahren nicht genannt werden durfte. Kurz nach seinem Erscheinen dekuvrierte Kraus in der Fackel seine Urheberschaft und blamierte das Blatt, das unter Herausgeber Moriz Benedikt als das einflussreichste der Monarchie galt, bis auf die Knochen. Triumphierend zeigte er, dass der fachmännisch klingende Unsinn nicht aus Unachtsamkeit ins Blatt gerückt worden war. Die Redaktion hatte den Brief stilistisch bearbeitet, aus dem wiederholten „Erdbeben“ ein „Beben“ gemacht und die zwar ursprünglichen, aber etwas unziemlichen „Stöße“, die Berdachs Frau verspürte, in neutralere „Erschütterungen“ verwandelt.

Ein Generationenproblem

Die Erinnerung an Berdachs Erdbebenbericht ist ein erstaunliches, offenbar generationelles Problem: Befragt man die über 50-Jährigen über Berdach, blickt man häufig in sich aufhellende, schmunzelnde Gesichter, bei den Jüngeren erntet man ratloses Achselzucken. Dabei markiert das Erscheinen seines Briefes am 22. Februar 1908 in gewissem Sinn die Geburtsstunde der Medienkunst, die Begründung von Hoax und Fake, die heute als legitime künstlerische und politische Strategien gelten.

Das Medium bildet die Leinwand, auf der der Künstler malt und die durch seine Intervention erst sichtbar gemacht wird. Die subversive Methode der fingierten Meldung fand unzählige Nachahmer, die seismischen Wellen des Bebens in der Glockengasse reichen von Helmut Qualtingers eher lokalen „practical jokes“ in den 50er-Jahren bis zu Alan Sokals weltweit diskutiertem Anschlag auf Social Text.

Der strenge, aber gewitzte Physikprofessor der New York University hatte 1996 die prominente US-Zeitschrift mit einem Artikel blamiert, in dem er auf 40 Seiten und 115 Fußnoten „bewies“, dass die Zahl Pi nicht konstant, sondern (wie im Übrigen die gesamte physische Realität) bloß ein irrlichterndes, historisch und kulturell vermitteltes Konstrukt sei. Die solcherart sokalisierte Zeitschrift reagierte weinerlich, Sokal aber hatte die Lacher auf seiner Seite. Der wohl berühmteste Verwandte von Berdach ist „Dr. Ing. Erich Ritter von Winkler“, der sich am 16. November 1911 der Neuen Freien Presse als Assistent der Zentralversuchsanstalt der Ostrau-Karwiner Kohlenbergwerke zu erkennen gab. Winkler war das Pseudonym des Wiener Unternehmers Arthur Schütz.

Seine Zuschrift berichtet ebenfalls von einem Beben im Ostrauer Kohlenrevier. Es führte im Kompressorraum zu gefährlichen Spannungsschwankungen im Dampfüberhitzer: „Da diese Erscheinung oft mit seismischen Störungen zusammenhängt“, berichtet Winkler detailliert und fachkundig, „so kuppelte ich sofort den Zentrifugalregulator aus und konnte neben zwei deutlich wahrnehmbaren Longitudinalstößen einen heftigen Ausschlag (0,4 Prozent) an der rechten Keilnut konstatieren. Nach zirka 55 Sekunden erfolgte ein weit heftigerer Stoß, der eine Verschiebung des Hochdruckzylinders an der Dynamomaschine bedingte, und zwar derart heftig, dass die Spannung im Transformator auf 4,7 Atmosphären zurückging, wodurch zwei Schaufeln der Parson-Turbine starke Deformationen aufwiesen und sofort durch Stellringe ausgewechselt werden mussten. (...) Völlig unerklärlich ist jedoch die Erscheinung, dass mein im Laboratorium schlafender Grubenhund schon eine halbe Stunde vor Beginn des Bebens auffallende Zeichen größter Unruhe gab.“

Die technischen Delirien von Winkler alias Schütz und der hier zum ersten Mal zur Existenz gekommene „Grubenhund“ wurden sprichwörtlich. Karl Kraus triumphierte erneut und beeilte sich zu schwören, „dass der Dr. Ing. Erich R. v. Winkler nicht von mir ist“. Kraus in der Fackel vom 23. November 1911: „Er ist ein Sohn des Zivilingenieurs Berdach aus der Glockengasse. Hat Berdach die Neue Freie Presse mit Ruten gepeitscht, so züchtigt Winkler sie mit Skorpionen. (...) Dieser Fachmann spricht eine andere Sprache, und die Wirkungen des Bebens im Ostrauer Kohlenrevier sind verheerend. Das Problem der Intelligenz und damit des Journalismus ist aufgerührt, der Offenbarungsglaube des gedruckten Wortes ist erschüttert. (...) Berdach zeugte Winkler und Winkler wird einen noch entarteteren Fachmann zeugen. (...) So wahr der Grubenhund vier Räder hat, es wird zu fürchterlichen Dingen kommen! Ich prophezeie es, und man kann mich beim Wort nehmen.“

Tatsächlich sind die Echos des Grubenhund-Gebells aus Wien bis heute zu vernehmen, mehr noch: Das doppelbödige medienkritische Spiel mit dem Modus Wissenschaftlichkeit gewann in einer von Technik und Wissenschaft beherrschten Welt seitdem immer stärker an Fahrt. Den parodistischen Interventionen sind dabei unterschiedliche intentionale Konzepte unterlegt, sie folgen unterschiedlichen Spielregeln und arbeiten mit variablen Graden der Aggressivität. Bisweilen handelt es sich um einen harmlosen Ulk, bisweilen um eine genuin künstlerische Strategie, in der durch Wissenschaftssimulationen imaginäre Parallelwelten in Literatur und Kunst generiert werden, bisweilen um Lebenszeichen einer „semiologischen Guerilla“ (Umberto Eco), die im Internet einen idealen, fast unbegrenzten Spielraum gefunden hat.

Petrophaga lorioti

Das Spektrum reicht vom Vorlesungsverzeichnis der Universität Muri von Walter Benjamin und Gershom Scholem bis zur Ergänzung der Natur durch neue Tierarten wie etwa der Steinlaus (Petrophaga lorioti), die von 1983 bis 1993 Eingang in den Pschyrembel gefunden hat. Es umfasst die Erschaffung von fingierten historischen Archiven, ja die Kreation ganzer Völker, wie die der Khuza, einer frühen sibirischen Kultur, der im Gropius-Bau in Berlin eine verwirrende Ausstellung gewidmet war. Viele Besucher hielten die Show für authentisch. Als eine besonders lohnenswerte Anstrengung erscheint den Fälschern die Erschaffung von einzelnen Gelehrtenphantomen wie dem Schweizer Anthropologen und Arzt Jakob Pilzbarth, der in der Kuranstalt Baden einige äußerst umstrittene Experimente durchführte, oder dem Polyhistor und Theologen Johann Jakob Feinhals. Der italienische Philosoph Luigi Antonio Anghelucci, der Vater der bekannten Radiatortheorie – die Anwendung der Sprachanalyse auf die Physik – schmuggelte sich in die neunte Auflage von Meyers Konversationslexikon. In der nächsten Auflage wurde seine Existenz allerdings seitens der Redaktion, die plötzlich skeptisch geworden war, wieder ausgelöscht.

Eindruck von Sachkenntnis

„Wissenschaft“, konstatiert der deutsche Kunsthistoriker Hans Holländer, „ist parodierbar, und zwar umso mehr, je mehr man übliche Formen der Fachliteratur einhält, und auch, je mehr sie beim Leser heilige Schauer vor so viel Exaktheit hervorruft.“ Eine Mischung aus authentischen Sätzen von bekannten Autoritäten und fiktiven Zitaten, einige Fachbegriffe, die kein Laie definieren kann, reichen aus, um den Eindruck von Sachkenntnis zu erregen. Ein Großmeister dieses Spiels war und ist der amerikanische Musiker, Autor und Regisseur Alan Abel. Zu seinen bekanntesten Schwindeleien zählt die Gründung von S.I.N.A. (Society for Indecency of Naked Animals). Die Gesellschaft forderte vehement die Bekleidung aller Haustiere und ein rigoroses Stillverbot für Frauen. Ein gewisser Prozentsatz der Mütter hätte, so der in die Rolle des puritanischen Arztes geschlüpfte Abel, erotische Gefühle beim Stillen. Im Jahr 1979 verwirrte Abel die amerikanischen Medien mit einer inszenierten Heirat.

Widerrufener Nachruf

Im Plaza Hotel in Manhattan ehelichte Idi Amin Dada eine Amerikanerin, um in den Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung zu gelangen. Viele Zeitungen und sogar das FBI reagierten empört. Abel starb, wie die New York Times in ihrem Nachruf am 2. Jänner 1980 nicht ohne Erleichterung vermeldete, an einem Herzinfakt. Es war der erste Nachruf, den die Times widerrufen musste. Einen vielleicht ultimativen Punkt der Fälschungskunst erreichte Orson Welles im Jahr 1966 in seinem Filmessay F for Fake. Mit der Figur des Elmyr de Hory fälschte Welles einen Fälscher und fügte, wie um die Lust am Vexierspiel zu komplettieren, dem imaginären Fälscher gleich einen ebenso gefälschten Entlarver der Fälschung hinzu. Man hätte gewarnt sein können: Zu Beginn der Pseudodokumentation tritt der Erzähler Orson Welles dem Publikum in der Rolle des Zauberkünstlers ent_gegen, wie der Gauk_ler in Hieronymus Boschs Gemälde, der seine Kunststücke vorzeigt, während dem Zuseher der Geldbeutel gestohlen wird. Die Sympathie gehört dem Dieb und dem Gaukler, nicht dem Bestohlenen.

Das parodistische Spiel mit den Medien steht allerdings vor mehreren Schwierigkeiten. Die erste ist seine Erkennbarkeit. Die Parodie ist im Grunde ein parasitärer Akt, der Text ist stets auf ein vorhergehendes Werk und sein Melos bezogen, das durch Übersteigerung ins Lächerliche gezogen wird.

Jede Parodie bedarf deshalb des Vorverständnisses ihres Referenztextes, und jeder Parodist ist gezwungen, eine mehr oder minder deutliche Spur zu legen, damit die Parodie erkannt werden kann, oder er muss die Täuschung zur Schande des Mediums (und des unaufmerksamen Lesers) in einem separaten Teil des Spiels selbst enttarnen. Die Aufdeckung ist ein Trapezakt. Am besten schweigt der Parodist und überlässt die Dekuvrierung anderen oder ist zumindest vorsichtig.

Moment der Grausamkeit

Zudem ist die Parodie als Form des Komischen ihrem Wesen nach destruktiv. Wie jedes Spiel, jeder Witz kann sie ohne ein Moment der Grausamkeit nicht gedacht werden. Sie ist ein skeptischer, zerstörerischer Akt am vorgängigen Werk, ein Funke, der zwar zündet und mit den Mitteln des Lachens vielleicht einen Brand auslöst, der aber selbst nicht brennt. Im anschließenden Spiel der Aufdeckung hat der Parodist nur die Wahl zwischen den Rollen des Moralisten oder des Ironikers.

Nach Friedrich Nietzsche setzt die Parodie hinter den „ganzen bisherigen Erden-Ernst, alle Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe“ ein „Fragezeichen“, spielt mit allem, „was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess“, formuliert aber selbst kein Ideal. Wie kein anderes Zeitalter ist die Epoche, heißt es in Jenseits von Gut und Böse, prädestiniert „zum Karneval großen Stils, zum geistigen Fasching-Gelächter und Übermuth, zur transcendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung. (...) als Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes.“

Der Ironiker muss die Vieldeutigkeit des Lachens und mögliche Missverständnisse seiner Parodie in Kauf nehmen; durch die Bodenlosigkeit seines Lachens ist seine Position im Spiel zwar nicht festgelegt und er selbst unangreifbar, aber er ist tendenziell zum Schweigen verurteilt. Wenn er sich zu häufig zu Wort meldet, dann läuft er wie der Skeptiker bekanntlich Gefahr, penetrant zu werden.

Das große Nietzscheanische Faschingsgelächter, die aristophanische Weltverspottung war etwa Alan Sokals Sache nicht. Er entschied sich im zweiten Akt der Aufdeckung für die Rolle des moralischen Kritikers und ließ seinem glänzend gesetzten parodistischen Fragezeichen eine aufklärerische Streitschrift voller langweiliger Rufzeichen folgen. Er gleicht darin einem Zauberkünstler, der nach dem verdienten Applaus plötzlich wieder die Bühne betritt und umständlich alle seine Kunststücke erklärt, um Missverständnisse zu vermeiden.

Schwarze Magie
Kraus ging es mit seinem Berdach’schen Brief um etwas anderes. Der Abdruck der Satire war, wie er zeigte, kein Betriebsunfall, er gehörte für Kraus geradezu zum modernen System der „schwarzen Magie“ und gibt präzise eine „Ahnung von dem, was kommen wird“: „Der Schwachsinn, der früher nie daran gedacht hätte, aus seinem Privatleben hervorzutreten“, notiert Kraus in der Fackel 1908, „hat eine Gelegenheit für die Unsterblichkeit entdeckt, die Banalität wird aus ihrem Versteck gelockt, das Durchschnittsmenschentum im Triumph eingeholt. Eine verzehrende Gier hat sich des Herrn Niemand bemächtigt, genannt zu werden. Tausende umlagern die Redaktion, heben die Hände empor zum Mirakel des lokalen Teils und rufen: Ich auch! Ich auch!“

Ist die Gegenwart der Medien jemals besser beschrieben worden? Aus den Tausenden sind Millionen, aus den in die Falle getappten Lokalredaktionen kühl kalkulierende Fernsehstationen geworden, deren Kunst darin besteht, die Masse der Ich-auch-Exhibitionisten à la Berdach tagtäglich mit jener der Ich-noch-nicht-Voyeure zu verbinden. Und die Verwirklichung der „Ahnung von dem, was noch kommen wird“, lässt sich auf unzähligen Internetplattformen betrachten. Der User, heißt es, designt jetzt seinen eigenen Content. Was auch immer, für wen auch immer. Medientheoretiker nennen diesen Kraus’schen Albtraum Web 2.0 und prophezeien ihm eine glänzende Zukunft.

Die Glockengasse 17 ist heute überall, der Zivilingenieur Berdach, den Kraus vor hundert Jahren noch als Zerrbild schuf, in dessen Zügen sich das Medium spiegelt, das ihn erscheinen lässt, ist in seiner phantomhaften Existenz real geworden. Er hat sich unendlich vervielfältigt und bleibt doch virtuell: als „miriam 49.gmx“ oder „lorenzo11“. Sie bellen zwar nicht mehr wie der Grubenhund, aber sie bloggen nach Herzenslust, über Hämorrhoiden, klandestine Neigungen und andere Befindlichkeiten.

Kraus hingegen ist ein heute kaum mehr gelesener Autor. Zu gallig ist sein Witz, um auf eine historische Shortlist zu gelangen, zu hochmütig sein Verständnis einer Existenz in einem Weltgefängnis, in dem er die „Einzelhaft vorzieht“. André Heller hat sich unlängst in einer vielbeachteten Rede gegen das Negative des „in seiner Nachwirkung unseligen Karl Kraus“ gewandt. Heller sucht jetzt mehr das Positive.

Warum auch nicht? Er hat ja recht: Der Kraus’sche Witz ist aus dem Zorn geboren, er hielt als ungeheure Produktivkraft immerhin bis zur Walpurgisnacht 1933. Im Zorn aber ist bei Kraus das Bild einer anderen Welt immer schon aufgehoben. Sein Zorn fordert eine Tugend ein, vielleicht keine christliche und mit Sicherheit eine völlig unzeitgemäße – Scham. Aber wen sie dennoch interessiert: Ihre Adresse ist nicht die Glockengasse 17, sondern die Hintere Zollamtsstraße 3, die Redaktion der Fackel vor hundert Jahren. (Ernst Strouhal, DER STANDARD; Printausgabe, 22./23./24.3.2008/Album)