Bruno Latour: "We have Never Been Modern", Harvard University Press 2007, 168 S.

Coverfoto: Harvard University Press
Die Moderne hat uns aus dem finsteren Mittelalter gerissen. Mit der Aufklärung die Spreu der Ideologie vom Weizen der Wissenschaft getrennt. Und nun behauptet der französische Wissenschaftsforscher Bruno Latour: "Wir sind nie modern gewesen"? Warum es essentialistische Dichotomien der Moderne wie jene zwischen Wissenschaft und Gesellschaft oder Technik und Kultur zu verabschieden gilt? Die Kommunikationswissenschaftlerin Katharina Holas bietet Antworten.

Perspektivenwechsel: "Inmitten der Dinge"

Ein Blick in die Zeitung entfaltet ein reiches Potpourri an nicht-menschlichen Wesen, die ihren Weg tagtäglich über die "News" auf unseren Frühstückstisch finden. Nanopartikel, Gen-Sequenzen, und der Tod der CD werden beispielsweise heute serviert. Bleiben wir einmal kurz bei letzterem Thema. Feinsäuberlich vom STANDARD unter der Rubrik Kultur einsortiert, wirbelt der Text menschliche Wesen, Technik und Wirtschaft wild durcheinander. Ausgehend vom Musiker Platzgumer und seinem als MP3-Download neu aufgelegten Album "Tod der CD" entfaltet der Interview-Text ein zusammenhängendes Netzwerk aus Musikern, Käufern, Musiklabels, sowie technischen Innovationen wie Digitalisierung, MP3s und Downloadmöglichkeiten. Die dichotome Trennung von Technik und Kultur führt sich damit ad absurdum und löst sich in ein verschränktes Ganzes auf. So oder so ähnlich kann man sich ein rezentes Beispiel für die theoretischen Argumentationen in Katharina Holas' Diplomarbeit "Transmissionen zwischen Technik und Kultur" vorstellen.

Régis Debray & Bruno Latour: Zwei alternative Denker

Holas fordert neue Denkmodelle, die binäre Technik- und Kulturkonzepte hinter sich lassen und der komplexen Realität auf unserem Frühstückstisch gerecht werden. Konkret beschäftigt sie sich mit zwei französischen Philosophen, die alternative Konzepte zur Erfassung von technokulturellen Hybridwesen vorschlagen: Régis Debray und Bruno Latour. Beide Denker tummeln sich zwischen den Disziplinen und können als Grenzgänger oder vielmehr Grenzüberschreiter beschrieben werden. Gleichzeitig treffen sie sich theoretisch an einem für beide zentralen Punkt: dazwischen. Debrays medientheoretisches Konzept der "Mediologie" beschäftigt sich vornehmlich mit wechselseitigen Übertragungen zwischen Kultur und Technik. Bruno Latours „Actor-Network Theory“ hat im Kontext empirischer Forschungen ein engmaschiges Netz zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Technologie gesponnen.

Technokultur & sozio-technische Hybride

Beide Konzepte wehren sich gegen künstlich errichtete Dichotomien und rücken Verschränkungen und Übersetzungsprozesse zwischen so heterogenen "Akteuren" wie Kultur, Technik, Wissenschaft, Gesellschaft, Menschen, Materialität, Diskurs, Ideen bis hin zu geschlechtslosen Wesen wie Cyborgs ins Zentrum. Sie versuchen durch Denkwerkzeuge wie Technokultur oder sozio-technische Hybride eine Symmetrie zwischen Materialität und Kultur herzustellen. So beschäftigt sich die Mediologie zum Beispiel mit materiellen Gütern wie Denkmälern oder Medien als kulturelle Gedächtnisspeicher, die Ideologien und Religionen über Raum und Zeit hinweg verbreiten und durchsetzen. Die Actor-Network Theory hingegen beschreibt Wissenschaft als sozialen Prozess. "Erkenntnis" oder "Innovation" werden dabei als Resultat komplexer Ausverhandlungen zwischen WissenschaftlerInnen, Labortechniken, Natur, sowie politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen begriffen. Erst durch das Aufzeigen des "Eigensinns der Objekte" und deren Zusammenspiel mit menschlichen Akteuren können wissenschaftliche Kontroversen oder technische Innovationsprozesse in ihrer Komplexität begriffen werden, so das Argument.

"Wider deterministische Denkmodelle"

Mit angenehmer Leichtigkeit führt uns Holas durch die zum Teil sperrigen Theoriekonzepte. Präzise dekonstruiert sie sowohl subjektzentrierte, als auch technikdeterministische Denkmodelle, um uns den Weg aus der gescheiterten Moderne zu weisen. Was die beiden Konzepte konkret für medienwissenschaftliche Forschung jenseits von Interdisziplinarität leisten können, verbleibt allerdings etwas abstrakt. Hier hätten ein paar Anknüpfungspunkte an gesellschaftspolitische Debatten rund um neue Medien und deren kulturelle Implikationen nicht geschadet. Davon abgesehen leistet die Arbeit einen umfassenden Überblick über alternative Technik- und Kulturkonzepte und kann damit insbesondere frankophonen LeserInnen (Zitate im französischen Original) nur wärmstens empfohlen werden.

Katharina Holas' Diplomarbeit "Transmissionen zwischen Technik und Kultur. Der mediologische Ansatz Régis Debrays im Verhältnis zu Actor-Network Theorien" (2007) kann im Volltext nachgelesen werden.