Ein paar Zähne in einem Kieferteil - mehr ist vom bislang frühesten Hominiden in Europa nicht mehr übrig. Und doch erlaubt der Fund spektakuläre Einsichten.

Foto: EIA/Jordi Mestre
Dieser älteste europäische Hominidenfund gibt auch Hinweis auf die Besiedlung des Kontinents. Eudald Carbonell, Spaniens renommiertester Paläoontologe, erklärt im STANDARD- Interview mit Jan Marot, wie sich die frühesten Europäer ernährten und was das Besondere am Fundort in Atapuerca ist.

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Burgos/London - Woher kamen die ersten Europäer? Eine Frage, die Paläoanthropologen seit Jahrzehnten anhand von Knochen und Steinwerkzeugen in mitunter heftigen Diskussionen zu klären suchen. Nun machte der katalanische Forscher Eudald Carbonell mit seinem Team in den Höhlen der Sierra de Atapuerca (18 Kilometer von der spanischen Stadt Burgos entfernt) einen Sensationsfund: einen 1,2 Millionen Jahre alten Kieferknochen mit Zähnen von einem "spanischen" Vorfahren der heutigen Menschen.

Im Erdloch der Elefanten

Auf der stratigrafischen TE-9-Schicht im "Erdloch der Elefanten" barg das Team neben dem Kieferknochen auch noch Steinwerkzeuge - Pfeilspitzen, Faustkeile und behauene Feuersteine - sowie Säugerknochen. Diese wurden von unseren Vorfahren gebrochen, um an das Mark zu gelangen. Die Knochen weisen Schnitte auf, die auch das Abschaben von Fleisch belegen.

"Es war ein 1,60 Meter großer Homo Antecessor mit einem Hirnvolumen von 1000 Kubikzentimetern", beschreibt Carbonell den bislang ältesten Europäer gegenüber dem Standard. Jener Urmensch lebte von der Jagd und gesammelten Pflanzen. Durch Spalten und Hämmern stellte er auch Steinwerkzeuge her: ein Indiz ersten Handwerks in Europa.

Gleich dreifach ließ Carbonells Forscherteam seine eigenen Funde datieren - per Paläomagnetismus, per Schichtanalyse und mit der verfeierten C-14-Methode - und kommt so zum sicheren Ergebnis, dass eine Population der Vorfahren der Neandertaler und des modernen Menschen vor 1,2 Mio. Jahren inmitten der iberischen Halbinsel siedelte.

"Die Fundstelle liest sich wie ein Buch menschlicher Evolution", sagt Carbonell, der seit 30 Jahren vor Ort forscht. Seit 1968 gräbt man dort, wo man Ende des 19. Jahrhunderts beim Bau einer Bahntrasse erste Spuren früher Menschen fand: Heute spannt sich der Rahmen von der Bronzezeit bis ins untere Pleistozän, der Ära vor 1,8 Mio. bis 781.000 Jahren.

Zwischen 1992 und 1994 entdeckten Carbonell und seine Kollegen in der seit 2000 als Weltkulturerbe geltenden Grabungsstätte zahlreiche Knochen und gar Schädel des Homo Heidelbergiensis, welcher vor 800.000 die Höhlen bewohnte. Dieser lebte laut Carbonell unter härteren Klimabedingungen: Funde belegen gar die älteste bekannte Form des Kannibalismus. "Das jetzt ist der dritte große und wohl spektakulärste Fund", so Carbonell.

Aus dem Osten gekommen

In seinem Bericht über den Fund, der in der aktuellen Ausgabe der britischen Wissenschaftszeitschrift Nature (Bd. 452, S. 465) veröffentlicht wird, widmet sich der Forscher auch der Frage nach der Besiedlung der iberischen Halbinsel. Er geht dabei davon aus, dass die Vorgänger der Spezies Homo, wie eben der Homo Antecessor, aus dem Osten kamen - und zwar weitaus "schneller und kontinuierlicher als bislang angenommen". Der Beleg dafür: Der neue Fund weise "deutliche Ähnlichkeiten" mit dem Homo Georgiensis auf, der bei Dmanisi in Georgien entdeckt wurde und auf 1,8 Mio. Jahre datiert wird.

Jüngst berichte auch Alfonso Arribas, welcher nahe der südspanischen Stadt Granada bei Guadix am Fundort Fonelas P-1 forscht, Schnittspuren an Säugerknochen in einem Hyänenbau entdeckt zu haben: Ein Hinweis auf frühmenschliche Aktivität, den er auf ein Alter von zwei Mio. Jahre datierte - was den neuen Fund an Alter überträfe. "Fonelas P-1 ist hochinteressant", unterstreicht auch Carbonell. Für eine direkte Besiedlung über die Straße von Gibraltar gebe es aber bislang keine Belege.

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STANDARD: Was ist das Besondere am Fundort in Atapuerca?

Carbonell: Wir machten hier drei wesentliche Funde, einerseits Schädel in der Sima de los Huesos (Erdloch der Knochen), das war 1992, die man auf ein Alter von 500.000 Jahre datierte, dann 1994 den Homo Heidelbergiensis in der Gran Dolina (Großen Doline; Senke), sowie bis hin zu Bronzezeit-Funden die auf knapp 4.000 Jahre datiert wurden und nun eben der Beleg des bislang ältesten Menschen in Europa, der vor 1,2 Millionen Jahren lebte.

STANDARD: Sie sind stets interessiert an der verwendeten Technologie …

Carbonell: Man fand nun die bislang ältesten Funde einer steinverarbeitenden Industrie, des Typ 1 Oldowan, vergleichbar mit den Funden in Georgien (Dmanisi) und älterer afrikanischer Funde. Obwohl Feuer noch unbekannt war, verwendete man bei Atapuerca Feuerstein als Schnittwerkzeuge. Afrika war zu jener Zeit hochentwickelt, Europa weit weniger. In gewisser Weise stellen revolutionäre Entwicklungsschritte, wie etwa die Steinaxt, einen Sprung wie der Einsatz des Computers einer ist, dar.

STANDARD: Wie ernährten sich unsere Vorfahren?

Carbonell: Sie waren Jäger und Sammler, welche sich vom Fleisch kleiner und größerer Säugetiere ernährten. In der Ära der Homo Antecessor-Besiedelung vor knapp 800.000 Jahren gibt es auch Hinweise auf Kanibalismus. Ob dieser gastronomisch oder kulturell orientiert war, wissen wir noch nicht. Vor 1,2 Millionen Jahren war die Region bewaldet, es gab viel Wasser, während vor 800.000 Jahren weitaus kältere und womöglich knappere Zeiten vorherrschten.

STANDARD: Wie wurde ihrer Meinung nach Europa von menschlichen Vorfahren besiedelt?

Carbonell: Nach dem Vergleich des jüngsten Fundes und Absprache mit Kollegen aus Dmanisi, gehe ich davon aus, dass Europa von Afrika, via dem Kaukasus besiedelt wurde. Der gefundene 1,2 Millionen Jahre alte Kieferknochen leitet sich vom Homo Georgiensis ab.

STANDARD: Was halten sie vom Fund bei Fonelas P-1, um Guadix, den man auf das späte Pliozän, vor 2 Millionen Jahren datiert?

Carbonell: Fonelas P-1- ist hoch spannend, da man unglaublich viele Reste der Fauna jener Zeit entdeckte. Und wo Tiere lebten, kann es auch Menschen gegeben haben, wie die Abschürfungen an Säugerknochen zeigen. Den Wert des Fundes wird man beweisen müssen.

STANDARD: Glauben Sie an die Möglichkeit einer direkten Route der Besiedlung über die damals weitaus engere Straße von Gibraltar?

Carbonell: Im Augenblick gibt es keine Belege, die in diese Richtung deuten. Aber wie immer in der Wissenschaft, kein Hypothese kann ohne Prüfung widerlegt werden. (Jan Marot aus Granada/DER STANDARD, Printausgabe, 27.3.2008)