Abweichungen, die sich summieren: Eine 2700 Jahre alte Uhr ginge heute um sieben Stunden vor.

Foto/Illustration: Nasa/Fatih
Die geringere Erdrotation wiederum führt zu geringfügig längeren Tagen, wie ein britischer Forscher nun anhand von historischen Aufzeichnungen exakt berechnen konnte.

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Durham - Die Tage werden länger. Wenn wir so etwas sagen, dann meinen wir damit, dass es bei uns auf der Nordhalbkugel nun länger hell bleibt als im Winter. Geophysiker interpretieren den Satz anders: Sie haben erkannt, dass die Tage generell länger werden, nicht nur im Frühjahr.

Die Ursache dafür ist vor allem der Mond. Seine Anziehungskraft sorgt dafür, dass in Ozeanen und im Erdinneren täglich Wellen entstehen, der Planet wölbt sich. Die Erde verhält sich dabei wie eine rotierende Eistänzerin, die ihre Arme ausbreitet: Sie verlangsamt ihre Drehung. In ferner Zukunft wird ein Tag deshalb 25 Stunden haben.

Ein britischer Astronom konnte nun nachweisen, dass die Erdrotation seit 700 vor Christus stetig nachgelassen hat. In historischen Schriften fand er Berichte von Sonnen- und Mondfinsternissen. Aus den Dokumenten errechnete er anhand des damaligen Sonnenstandes die "Bremsspur" der Erddrehung.

23-stündiger Dino-Tag

Als die archaischen Ur-Tiere vor 530 Millionen auf der Erde lebten, hatte der Tag noch 21 Stunden. Und die Dinosaurier vor 100 Millionen Jahren erlebten 23-Stunden-Tage. Das zeigen Kalkschichten in Korallen. Korallen führen quasi Kalender, indem sie täglich neue Kalklagen bilden, deren Dicke mit den Jahreszeiten variiert.

Daraus lesen Forscher zum Beispiel, nach wie vielen Tagen wieder ein Frühling beginnt. Diese Zahl sank im Laufe der Erdgeschichte stetig. Die Erde drehte sich vor 530 Millionen schneller um sich als heute, aber umkreist die Sonne in konstantem Tempo. Das Jahr dauerte also genauso viele Stunden wie heute, die sich aber auf 420 Tage verteilten.

Auch im Laufe der jüngeren Menschheitsgeschichte habe sich die Drehung der Erde nachweislich weiter verlangsamt, berichtet Richard Stephenson von der Durham-Universität in Großbritannien im Journal for the History of Astronomy (Bd. 39, S. 229). Er stützt sich auf die Beschreibungen von hunderten Sonnen- und Mondfinsternissen der vergangenen 2700 Jahre.

Am besten dokumentieren Tontafeln aus dem vorchristlichen Babylon die Bremsung der Erddrehung, schreibt Stephenson. Stephenson hat zudem Schriftstücke aus China und Europa ausgewertet.

An jedem Ort der Erde tritt nur rund alle 300 Jahre eine totale Sonnenfinsternis auf. Dabei schiebt sich der Mond zwischen Sonne und Erde; für Minuten wird es stockdunkel. Oft wurde genauestens notiert, an welchem Datum zu welcher Uhrzeit sich am Sonnenrand der erste Schatten abzeichnete. Auch das Ende einer Sonnenfinsternis wurde festgehalten.

Eine gut dokumentierte Sonnenfinsternis erlaubt es, die Position der Erde auf ihrer Bahn um die Sonne zu bestimmen. Weil die Bahn der Erde unabhängig von der Erdrotation verläuft, liefert sie ein unabhängiges Zeitmaß - die so genannte "Terrestrische Zeit".

Universalzeit

Die Bremsung der Erddrehung zeigt sich, wenn die "Terrestrische Zeit" mit der "Universalzeit" verglichen wird. Die Universalzeit ist die gebräuchliche Uhrzeit, sie hängt von der Erddrehung ab. Sie wird anhand des Sonnenstandes bezogen auf die britische Ortschaft Greenwich bestimmt. Die Universalzeit muss stetig nachgestellt werden, alle paar Jahre wird zwischen Silvester und Neujahr eine Schaltsekunde eingefügt.

Auf Basis der historischen Aufzeichnungen gelang es Richard Stephenson, jeweils beide Zeitmaße zu bestimmen: "Terrestrische Zeit" und "Universalzeit" klafften umso weiter auseinander, je weiter die jeweilige Sonnenfinsternis zurückliegt.

Zwei Tausendstel

Die Tage sind demnach pro Jahrhundert um knapp zwei Tausendstel Sekunden länger geworden. Mithin waren die Tage zu Zeiten Babylons nur vier Hundertstel Sekunden kürzer als heute.

Stephenson konnte diese minimale Abweichung jedoch ermitteln, weil sich der Fehler bei der Universalzeit addiert: Seit 700 vor Christus sind rund eine Million Tage vergangen, die minimal kürzer waren als heute - eine normale Uhr müsste heute um sieben Stunden vorgestellt werden.

Eine Ausnahme bildeten die vergangenen Jahre. In dieser Zeit sind die Tage so gut wie gar nicht länger geworden. Vermutlich haben Massenverlagerungen im Erdinneren die Bremswirkung des Mondes konterkariert.

Auch das Tsunami-Erdbeben Ende 2004 in Südostasien gab der Erde einen zusätzlichen Drall: Es verkürzte die Tageslänge um acht Millionstel Sekunden.

Der kürzeste Tag der vergangenen 100 Jahre war nach Angaben des Internationalen Erdrotationsdienstes der 13. Juli 2003; er war fast 1,5 Tausendstel Sekunden kürzer als 24 Stunden. Abweichungen, die sich summieren: Eine 2700 Jahre alte Uhr ginge heute um sieben Stunden vor. (Axel Bojanowski/DER STANDARD, Printausgabe, 28.3.2008)