
Alfred Goubran: "Über ihm lief das Geräusch des Regens die Dachtraufen entlang. Große Musik. Er zog seine Sticks aus der Jacke und begann damit auf das Holzgeländer zu trommeln; federnde Schläge aus dem Handgelenk heraus. Zweifellos hatten die Proberaumkönige viel Ahnung von Musik (er konnte nicht einmal Noten lesen). Er nahm das nicht so ernst."
Er ließ die Eingangstür offen, polterte mit schweren Schritten die enge Holzspindel der Kellerstiege hinab, mied die Berührung mit der feuchten Mauer. Unten, wo das Licht von der Veranda nicht hinreichte, zündete er das Feuerzeug an. Der Kellergang glich einem Stollen, in dem sich der Schimmelgeruch staute, der aus dem Boden und den unverputzten Wänden drang. An Regentagen wie heute war es schlimm. Er schloss die Brandschutztür auf und verkeilte sie mit einem Feldstein, der am Boden lag. Wieder oben, verbrannte er sich bei dem Versuch, eine Zigarette anzuzünden, an dem heißen Feuerzeug die Finger. Er legte es auf das Holzgeländer der Veranda, zog sich die Kapuze über den Kopf, wartete.
Das Grundstück lag im Dunkeln. Gegen die Hochhausfassade hin zeichneten sich die Umrisse der Sträucher ab, die den Zaun entlang gepflanzt waren. Links die Tanne, das Haus überragend. Er mochte den Baum, das ganze Ensemble. Er sah sich darin, wie in einem Bild: Die Kapuzengestalt unter dem Vordach des Holzhauses, im gelbschimmernden Licht der Lampe. Ein Bild wie aus einem Märchenbuch …
Dagegen: Weißes, kaltes Neonlicht beleuchtete die Eingänge des Hochhauses gegenüber. Drei Stiegen. Halogenlampen auf den Wegen und dem Parkplatz davor. Einige Fenster waren geöffnet. Gardinen, kaum Vorhänge. Schatten dahinter. Schraffen von Regen. Verwischte Bewegung. Über ihm lief das Geräusch des Regens die Dachtraufen entlang. Große Musik. Er zog seine Sticks aus der Jacke und begann damit auf das Holzgeländer zu trommeln; federnde Schläge aus dem Handgelenk heraus. Zweifellos hatten die Proberaumkönige viel Ahnung von Musik (er konnte nicht einmal Noten lesen). Er nahm das nicht so ernst. Hinstellen, proben, spielen. Aber so, dass es Spaß machte. Georg verstand das nicht und die Proberaumkönige auch nicht. Georg war früher Bassist bei Nova gewesen, bis Helmut aufgetaucht war und ihm die Frau, sein Kind und den Platz in der Band weggenommen hatte. Kein Problem. Georg verstand sich gut mit Helmut. Alles blieb unter sich. Georg rührte seine Bassgitarre nicht mehr an, versoff sich, malte und schrieb nur noch Gedichte. Er hatte den Proberaum einmal das "Troglodytenzimmer" genannt. Niemand hatte gelacht. Dann hatten sie für eine Performance "geprobt". Patrick und er hatten ihre Nummern gespielt, laut, schnell, und Georg hatte Texte dazu gelesen, einen Packen Zettel in der einen, eine Flasche Wodka in der anderen Hand. Man verstand kein Wort, die Gitarren waren zu laut, das Mikrofon lief nur über den kleinen Bassverstärker. Einmal hatten sie einen Übergang verpatzt, ohne dass Georg etwas davon gemerkt hatte. Sein "Nittribitt! Nittribitt" hallte Martin noch in den Ohren, Patrick hatte einen Lachkrampf bekommen und wieder den Einsatz verpasst, aber Georg hatte nur immer weiter "Nittribitt! Nittribitt!" gebrüllt, eine gute Minute lang, bis sie den Einsatz endlich hinbekamen. Georg war mindestens so verrückt wie die Proberaumkönige. Früher oder später würden sie sicher zusammenkommen.
Als sie eingezogen waren, hatten sie die Wände mit Thermomatten tapeziert, die sie nach und nach von Baustellen zusammengestohlen hatten. Man durfte die Matten nicht mit bloßen Händen berühren, sie waren durchsetzt mit Glasfasern, die sich in der Haut festhakten. Als er den Schalter fand und das Deckenlicht aufflammte, begrüßte ihn das übliche Durcheinander: Gleich hinter der Tür das unbenutzbare Waschbecken, unter dem Siphonstumpf ein Malereimer, über dessen Rand ein Gewirr aus Nickel- und Silberdrahtsaiten wucherte. Fetzen von Teppichboden über den angefaulten Dielen. An die Wand gerückt: ein Sofa, vollgeräumt mit von der Feuchte verformten Kartons.
Er knipste den Ölradiator an, fischte seine Sticks aus der Jackentasche, dann nahm er den Eindringling wahr, ohne ihn zu sehen, etwas von ihm, eine Bewegung vielleicht, etwas Lebendiges hinter dem Schlagzeug, das dort nicht hingehörte. Instinktiv sprang er zurück, mit zur Abwehr erhobenen Armen: "He", rief er erschrocken, aber es war nur ein kleiner Junge. Er wusste, dass es ein kleiner Junge war, obwohl er nur den Haarschopf über der Snaredrum sah, die sein Gesicht verdeckte. Martin nahm die Hände herunter. An der Wand neben dem Schlagzeug lagen zwei Glasfasermatten auf dem Boden, daneben Kissen und Stofffetzen. Das Fenster stand offen. Martin stopfte und keilte die Dämmung wieder in den Fensterrahmen, lehnte die zwei Matten an die Wand. Hoffte, dass der Junge hinter seinem Rücken davongelaufen wäre, aber als er sich umdrehte, stand er vor dem Radiator, die Hände über den Speichen. Pyjama und Haare nass vom Regen. Nicht zu nahe, dachte Martin, und setzte sich auf den Hocker hinter das Schlagzeug, von wo er den Jungen gut im Blick hatte.
"Und jetzt?" Er sah den Jungen an. Der Junge hatte Angst. Er übertrieb sein Zittern. Kälte und Nässe. Nachhall von Angst. Er musste die ganze Zeit über im Dunkeln gesessen haben. "Du kannst nicht hierbleiben. – Das weißt du ...?" Der Junge sah ihn an, sagte nichts. Martin schüttelte den Kopf. "Das geht nicht." Vielleicht hier wohnen. Nachts Kohlrüben und Gurken stehlen in den benachbarten Gärten. Kleider von den Wäscheleinen ... – er hatte auf alles eine Antwort. Der Junge nicht. "Das weißt du doch?" Der Junge schaute ihn lange an, dann nickte er langsam. Er suchte in den Kartons nach einem Handtuch, fand eines, das nicht zu grindig aussah, warf es dem Jungen zu. Die alten Promo-T-Shirts kamen ihm in die Hand. "Magst du die Band?" Er zeigte dem Jungen das T-Shirt. "Mmh?" Er warf es ihm hin: "Kannst es haben …"
Später stand der Junge nur in dem langen T-Shirt und mit nackten Füßen vor dem Ölradiator, auf den sie seinen Pyjama zum Trocknen gelegt hatten. Eigentlich ein Kind, dachte er. Ein Mädchengesicht. Sieben, vielleicht acht Jahre alt. Er ließ ihn in Ruhe. Fragte nicht. Der Junge wollte das T-Shirt behalten, zog sich den Pyjama darüber an, knöpfte sich das Jäckchen sorgfältig bis zum Hals zu, schlüpfte in ein Paar ausgetretene Turnschuhe, die Martin in einer Sporttasche hinter dem Sofa gefunden hatte. Dann gingen sie hinauf. Martin schloss ab. Leuchtete mit dem Feuerzeug. Der Junge ging voran. Als sie auf der Veranda standen, zeigte der Junge auf das Hochhaus. "Da drüben wohnst du?"
Es hatte aufgehört zu regnen. Vor der zweiten Stiege blieb der Junge stehen, sagte nur "Werner". Martin suchte nach dem Schild, fand nichts, bis er begriff, dass der Junge den Vornamen gemeint hatte. Er läutete. Fast unmittelbar antwortete der Türsummer. Er ging neben dem Jungen her. Ganz im Kinderschritt des Kleinen. Folgte ihm zum Lift, bis hinauf vor die Wohnungstür. Am liebsten wäre es ihm gewesen, wenn der Junge einfach hineingegangen wäre. So stand er nur da. Klopfte nicht, läutete nicht. Bis es die Tür aufriss. Plötzlich. Der Kopf eines Mannes schnellte vor. Gesundheitsschuhe, Jogginghose, Trainingsjacke. O Gott!, war alles, was Martin denken konnte.
Der Junge schlüpfte an dem Mann vorbei in die Wohnung. Der Mann hat ihn nicht einmal angesehen. Er hatte nur Augen für Martin. "Und? Ist was?" Eine Zeitlang geschah gar nichts. Dann drehte der Mann sich um und schloss die Tür. Martin blieb noch eine Weile vor der verschlossenen Tür stehen und horchte. Dann ging er hinunter. Er wollte zurück in die Stadt. Er wollte jetzt nicht allein sein.
Auf den Holzstufen der Veranda sammelte sich das Wasser in kleinen Pfützen. Ein Nachtfalter taumelte aus dem Gartendunkel in den Lichtkreis der Lampe über der Eingangstür. Es war still, alle Fensterläden waren geschlossen. Trotzdem wusste der Junge, dass jemand im Haus war, oben, im ersten Stock. Er stand bei den Büschen am Zaun, die bloßen Füße im nassen Gras. Sein Kopf dröhnte, er war noch ganz benommen von den Schlägen. Es war nicht eine bestimmte Stelle, die wehtat, es war der ganze Kopf. Hohl und aufgeblasen. Die Müdigkeit machte seinen Kopf schwer, es fühlte sich an, als füllte er sich langsam mit Wasser.
Er wusste, dass die Müdigkeit den Kopf schwermachte, wusste es von dem Baby, wenn er es, auf- und abgehend, in den Schlaf zu wiegen versucht hatte. Oft hatte er, mit dem schlafenden Baby in den Armen, stundenlang am Fenster gestanden und auf das Haus und das Grundstück hinuntergesehen. Er kannte alle, die dort aus und ein gingen. Es waren seine Spielzeugmenschen. Der Junge mit den Trommelstöcken, der ihn heute zurückgebracht hatte … oder der kleine lustige Mann mit dem Silberbart, der jahraus, jahrein dieselbe Jacke trug … Dieses Haus war sein Spielzeughaus, das Grundstück, die Tanne, die Äcker dahinter seine Spielwiese. Er konnte mit seinem Traktor darin herumfahren, er konnte seine Autos vor dem Haus parken lassen. Es war ein lebendiges Bild, in dem sich die Dinge veränderten, anders als das Zimmer und die Wohnung. Er träumte oft davon, dass er in dieses Bild hineingehen könne, tat es aber nie. Immer war es Nacht in diesen Träumen, und er sah aus seinem Fenster auf das Grundstück, das Haus und die Äcker hinab, und je länger er hinsah, desto größer wurden sie, so, als rückten sie zu ihm heran. Aber er schaffte es nur bis zu einem gewissen Punkt, das Bild und die Gegenstände zu sich heranzuziehen. Etwas fehlte. Etwas machte er falsch. Deshalb war er auch heute, als er versucht hatte, in das Bild hineinzugehen, nur in diesem Keller gelandet. Er musste warten … es so lange ansehen, bis es von selbst auf ihn zukam, wie er es zu Hause immer …
Plötzlich erlosch das Licht über der Eingangstür auf der Veranda. Der Junge riss die Augen auf, aber er konnte niemanden sehen, auf dem Weg nicht und nicht vor dem Haus. Eine Windbö fuhr in die Sträucher, der Wipfel der Tanne bog sich weit nach hinten. Dann gingen auch in dem Hochhaus die Lichter aus. In der Dunkelheit nur der tobende Wind, ein Krachen. Der Baum brach … Jetzt, dachte der Junge, taumelte zurück gegen den Zaun und rutschte langsam daran zu Boden.
Früh am nächsten Tag erschien der Besitzer des Holzhauses, um es auf Sturmschäden zu inspizieren. Das Dach machte ihm Sorgen. Er ging mehrmals um das Haus herum. Nicht ein Ziegel war heruntergefallen. Die Musiker hatten wieder das Licht brennen gelassen. Er machte es aus. Er bemerkte den kleinen Jungen nicht, der hinter den Büschen auf der Erde schlief. Spielende Kinder entdeckten ihn dort zwei Tage später. Er lag auf dem Bauch, den Kopf mit dem Gesicht nach unten, halb in die Erde gewühlt. Der Mörder musste ihn bewusstlos geschlagen und dann sein Gesicht so lange in die nasse Erde gedrückt haben, bis er erstickt war.