Der Ökonom Stephan Schulmeister schätzte Donnerstag im STANDARD, dass die aktuelle Finanzkrise noch nicht ausreiche, um den "fundamentalistischen Marktglauben" nachhaltig erschüttern zu können. Ein wenig Geduld wird dazu wohl noch nötig sein, denn: Das gesellschaftliche Lernen wird mindestens drei solche Schläge aufs Hinterhaupt brauchen. Der erste war der Kursverfall zwischen 2000 und 2003, der zweite ist jetzt. Das erschüttert schon den fundamentalistischen Marktglauben.

Aber eben noch nicht nachhaltig. Schulmeister hat seine These bereits im Jahre 2000 aufgestellt und war damals seiner Zeit ein wenig voraus. Die Frist von der Setzung seiner These zu ihrer Verifizierung ist jedoch im Schrumpfen begriffen, wofür neulich in der "Wiener Zeitung" der tief empfindende Neoliberalist Christian Ortner als Gastautor einen überzeugenden Beweis geliefert hat. Unter dem etwas seltsamen Titel Und Lenin hat doch Recht stöhnte er verzweifelt: "Der Kapitalismus ist gerade dabei, eine Renaissance der Linken zu verursachen."

Wenn er die jüngsten Wahlerfolge von Oscar Lafontaine und Gregor Gysi in Hessen und Hamburg den angstschlotternden Leserinnen und Lesern der "Wiener Zeitung" als Renaissance der Linken verkaufen will, kann Ortner vielleicht beim Chefredakteur des Blattes einen Teilerfolg erzielen. Der Normalbürger wird sich schwertun, in Europa eine solche zu erkennen. Ihn wird er auch kaum mit der Vermutung überzeugen, der hiesige Sozialminister und SPÖ-Linksaußen Erwin Buchinger habe in diesen Tagen allen Grund zur klammheimlichen Freude.

In seiner Panik, der Kapitalismus könnte sich, wenn es schon die Linken nicht tun, selbst beschädigen, jammert Ortner: Wann immer sie in diesen Tagen den Wirtschaftsteil der Zeitung aufschlagen, können sie den Kapitalismus dabei beobachten, wie er sich selbst ganz gehörig desavouiert und der politischen Linken in der westlichen Welt neue Anhänger scharenweise in die Arme treibt. In diesem Fall lässt Ortner jede persönliche Rücksichtnahme fallen. Da erklärt etwa Josef Ackermann, Chef der "Deutschen Bank" und an sich schon kein ausgewiesener Sympathiebolzen, dass angesichts der globalen Finanzkrise die Märkte nicht mehr imstande seien, die Probleme aus eigener Kraft zu lösen - und ruft, ohne sich zu genieren, nach der helfenden Hand des Staates.

Wenn selbst ein Ackermann die hehren marktwirtschaftlichen Ideale Ortners zu verraten bereit ist, dann ist es so weit, auf Distanz zugehen. Da führen Gier und Inkompetenz dazu, dass hunderte Milliarden Euro verloren gehen - und dann soll, zumindest in den Vorstellungen des Herrn Ackermann, und Gott behüte, nicht in denen des Herrn Ortner, der Steuerzahler für den Schaden aufkommen.

Das ist nämlich nicht so sehr eine Frage der Eleganz, sondern eine der Legitimität. Nun ist ja noch nachvollziehbar, dass die Ackermanns dieser Welt probieren, ihre Gewinne zu privatisieren und ihre Verluste zu sozialisieren. Das ist nicht gerade sehr elegant, aber doch legitim. Nicht nachvollziehbar hingegen ist, warum Ortner den Ackermanns dieser Welt Gier und Inkompetenz vorwirft, wenn sie doch nur tun, was doch legitim ist? Eleganz gehört schließlich nicht zu den unabdingbaren Skills eines Kapitalvertreters.

Obwohl der Legitimist gerade eben noch erkannt hatte, man könne den Kapitalismus dabei beobachten, wie er sich selbst ganz gehörig desavouiert, zaubert er in einer kühnen Volte, wie aus einem Lehrbuch der Dialektik für Neoliberale, einen anderen Schuldigen aus dem Hut: Sobald freilich der Staat dem im größeren Stil nachgibt, unterminiert er die Legitimität des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systems erheblich, die freilich eine reine Glaubenssache ist. Nein, es ist nicht das System selbst, das seine Legitimität unterminiert. Oder doch? Verheddert im Netz antagonistischer Widersprüche schaut sich Ortner nach Unterstützung um und findet sie - in Lenin. Ausgerechnet. Der habe einst prophezeit, die Kapitalisten würden "auch noch jenen Strick verkaufen, an dem wir sie aufknüpfen werden". Könnte sein, dass er Recht behält.

So wenig recht behalten wie Lenin haben freilich höchstens noch die Legitimisten des marktwirtschaftlichen Systems. Aber wen ruft man nicht zum Zeugen auf, wenn man ein System glorifizieren will, dessen katastrophale Fehler nicht einmal einem Ortner mehr verborgen bleiben? Lenins System ist längst zusammengebrochen, und es hat seinen spärlichen Adepten in der westlichen Welt wenig geholfen, dass ihnen ein noch immer waltender Kapitalismus angeblich neue Anhänger scharenweise in die Arme treibt. In der SPÖ jedenfalls hält sich, trotz Buchinger, die klammheimliche Freude in Grenzen.

Immerhin, die Härte, mit der Ortner plötzlich die Gier und Inkompetenz eines Systems anprangert, dessen Legitimität er verteidigt, hat fast etwas von einem österlichen Bekehrungswunder an sich. Oder handelt es sich, mit Schulmeister zu vermuten, bereits um eine Folge des zweiten der Schläge aufs Hinterhaupt , die das Lernen befördern? Dann heißt es jetzt nur noch, auf den dritten Schlag zu warten (Günter Traxler, DER STANDARD; Printausgabe, 29./30.3.2008)