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In den deutschen Medien sieht Michail Gorbatschow eine Handvoll Thesen unermüdlich wiederholt - und kein Interesse daran, einmal gefasste Meinungen zu hinterfragen.

Foto: AP/Martin Meissner
In einem offenen Brief an die deutschen Journalisten kritisiert Michail Gorbatschow*, der Ex-Staatschef der Sowjetunion, die Einseitigkeit der Berichterstattung zum Thema Russland. Und wirbt um Vertrauen.

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Seit einigen Jahren habe ich zunehmend Kontakt zu den deutschen Medien, insbesondere im Zusammenhang mit dem Vorsitz im Petersburger Dialog, den ich neben Lothar de Maizière innehabe. Selbstverständlich galt und gilt mein Interesse zunächst einmal Berichten über das, was in Russland geschieht.

Dies ist immer wieder Thema für mich in zahlreichen Interviews, Pressekonferenzen und öffentlichen Veranstaltungen. So zum Bespiel bei der Verleihung des Doktor-Haas-Preises letztes Jahr in Berlin.

Worüber habe ich da gesprochen?

Darüber, dass Fragen und Unverständnis entstehen, wenn man sieht, WAS in Deutschland über Russland geschrieben wird und WIE es geschrieben wird.

Nicht von ungefähr habe ich das WIE hervorgehoben. Denn die Fakten, die Anlass zur Kritik bieten, stammen ja oft aus der Realität oder werden aus russischen Zeitungen übernommen. Übrigens treten russische Zeitungen zuweilen sogar kritischer auf als die ausländischen.

Beim aufmerksamen Blick auf die Flut von Veröffentlichungen in Deutschland wird man jedoch schwer den Eindruck wieder los, als ob man es mit einer gezielten Kampagne zu tun habe, als ob alle aus einer einzigen Quelle schöpften, die eine Handvoll Thesen enthält (in Russland gebe es keine Demokratie; die Meinungsfreiheit werde unterdrückt; eine arglistige Energiepolitik werde durchgesetzt; die Machthaber drifteten immer weiter in Richtung Diktat). Die Zeitungsmacher scheinen keinerlei Interessen jenseits dieser Aussagen zu haben.

Russlands Zukunft ...

Mehr noch: Diejenigen, die aus der Reihe tanzen, bekommen das zu spüren. So kürzlich geschehen im Fall der Fernsehjournalistin und Autorin Gabriele Krone-Schmalz nach der Veröffentlichung des Buches Was passiert in Russland?. Der Mode zuwider beschränkte sie sich nicht auf eine Aufzählung der Schattenseiten, sondern führte vielfältige Tatsachen aus dem Leben meines Landes auf, die sich nicht in das Prokrustesbett der modisch gewordenen Anschuldigungen zwängen lassen.

Was geschah danach? Erst taten renommierte Zeitungen so, als hätten sie die Buchveröffentlichung nicht bemerkt, dann griffen einige von ihnen die Autorin mit Anschuldigungen an, die an die Kritik aus der Zeit des Kalten Krieges erinnern. Das ist nur ein Einzelbeispiel, das aber eine Tendenz widerspiegelt. Kürzlich stellte mir ein deutscher Journalist beim Interview eine Vielzahl von Fragen, auf die ich ehrliche Antworten zu finden versuchte. Zum Schluss stellte ich ihm eine einzige Frage - danach, wie die deutsche Presse die Geschehnisse in unserem Land darstelle. Ich fragte ihn: Warum? Darauf konnte er keine eindeutige Antwort finden. Mir kam es vor, als ob auch er selbst nicht klar wüsste, worauf diese Tendenz zurückzuführen sei. Dennoch gab er zu, dass sie zweifellos existiere.

Was ist der Zweck dieses meines Statements? Ist es als eine Aufforderung zu verstehen, nur Gutes über Russland zu schreiben, obwohl es bei uns auch viel Negatives gibt?

Nein.

Man sollte einfach verstehen, dass es einen deutschen und einen russischen Kontext gibt. Man sollte erkennen, dass Russland nicht umhin kommt, in seiner Entwicklung alle möglichen Hindernisse überwinden zu müssen. Überspringen geht nicht. Wir müssen den ganzen Weg erlaufen und erklimmen.

... heißt Demokratie

Russische Medien, das Fernsehen verdienen ernsthafte Kritik. Jedoch gibt es bei uns zahlreiche Zeitungen, die heute Glasnost in der Praxis anwenden und frei schreiben. Einem aufmerksamen Beobachter kann nicht entgehen, dass die Medien - trotz aller Widrigkeiten - immer stärker werden. In den vergangenen Wochen äußerte ich mich in der russischen Presse mehrmals darüber, dass wir das Wahlsystem nach den Wahlen reformieren und es näher an die Anforderungen der Demokratie rücken müssen. Hier bestehen nicht wenige ernstzunehmende Mängel. Der Diskussionsprozess ist schon im Gange, Russland bewegt sich vorwärts, es hat nur eine Zukunft - diese Zukunft heißt Demokratie.

Wenn man in Russland als Korrespondent arbeitet und all diese Prozesse nicht erkennt, dann empfindet man für die Geschehnisse im Land kein Interesse. Kritik ist ein notwendiges Heilmittel. Aber von einer ungerechten, taktlosen Kritik von außen fühlen sich die Menschen in Russland gekränkt, die gerade erst verspürten, dass sich eine langsame, aber stete Verbesserung der Lebensbedingungen bemerkbar macht.

Es wäre schade, wenn sich dadurch das Verhältnis der Russen zu den Deutschen verschlechtern würde. Dieses Verhältnis war ja über die letzten Jahrzehnte hinweg gut. Ich kann es nicht unerwähnt lassen: Weder Gorbatschow, noch Kohl, noch Bush und ihre Mitstreiter hätten eine friedliche und rasche Wiedervereinigung Deutschlands erreichen können, wenn das russische Volk, die Bürger Russlands - allen tragischen Seiten der Geschichte zum Trotz - nicht ein neues Vertrauen zu den Deutschen gefasst und nicht das Recht der Deutschen auf Einheit unterstützt hätten.

Vor einigen Tagen bekam ich von meinem Freund Hans-Dietrich Genscher, dem ehemaligen deutschen Vizekanzler und Außenminister, ein Glückwunschschreiben zum neuen Lebensjahr. Darin schreibt er:

"Mit meinen Gedanken bin ich in dieser durch viele Ungewissheiten geprägten internationalen Situation oft bei dir. Es wird Zeit, die Stimme zu erheben für Zusammenarbeit und Vertrauensbildung. Wie schwer es ist, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, wissen wir beide wohl am besten. Ich erinnere mich immer wieder an die Zeit, in der im Westen darüber gestritten wurde, ob man dir vertrauen könne. Aber Vertrauen ist eine kostbare Sache und leicht zerbrechlich. Hier sind wir gefordert, und hier können wir etwas tun ..."

Das war zwar ein persönlicher Brief an mich, aber ich glaube, er hat einen öffentlichen Klang.

Wir sollten unser gegenseitiges Vertrauen zu schätzen wissen. Quelle: petersburg-dialog.de (DER STANDARD, Printausgabe, 2.4.2008)