Jérôme Segal bezeichnet sich selbst ironisch als "pathologischer Vielschreiber".

Foto: jerome-segal.de
Seit Februar forscht Jérôme Segal (37) am Wiener Interdisciplinary Centre for Comparative Research in the Social Sciences zur Frage, inwiefern Kulturfestivals zur Schaffung einer europäischen Identität beitragen.

Selbst bringt der französische Wissenschaftshistoriker schon eine europäische Identität der eigenen Art mit: Sein Urgroßvater Arnold Segal, geboren in der Nähe von Lemberg, brachte es im galizischen Ölboom um 1900 zu Wohlstand. Mit dem Ende der k.u.k.-Monarchie verschlug es ihn 1917 mit seiner Familie nach Wien, 1926 kaufte er sich das Schloss Schwadorf bei Schwechat. Im April 1938 wurde die jüdische Familie enteignet, im Mai flohen sie nach Frankreich. Jérôme Segals Großvater trat in die Fremdenlegion ein - nur so konnte er französischer Staatsbürger werden - und schloss sich danach der Résistance an, wo er seine Frau kennenlernte.

Seit knapp vier Jahren gibt es nun wieder eine Familie Segal in Wien. Am 12. März dieses Jahres hat Jérôme gemeinsam mit seiner Frau und seinen drei Söhnen Kerzen am Heldenplatz angezündet. Was wohl seinem Großvater vor 70 Jahren hier durch den Kopf gegangen ist?

Jérôme Segals akademische Karriere ist voller disziplinärer Verwandlungen. Er absolvierte zunächst in Lyon an einer "Grande école", wie die französischen Kaderschmieden heißen, ein Ingenieurstudium. Er wollte aber keine neuen Peugeots konstruieren, die Geisteswissenschaften interessierten ihn ungleich mehr. Die Wissenschaftsgeschichte bot sich da als "Ausweg" an.

Segal ging Ende 1993 für insgesamt fast sieben Jahre nach Berlin, promovierte über den Informationsbegriff und die Geschichte der Kybernetik und war Postdoc am dortigen Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Im Sommer 2000 ging er als verbeamteter Universitätslehrer wieder zurück nach Paris, 2004 wurde er ans Außenministerium "verliehen" und Wissenschaftsattaché der französischen Botschaft in Wien.

Metamorphose

Seine Begeisterung für die von viel Administration gekennzeichnete Arbeit war enden wollend. Im Sommer letzten Jahres ließ er sich karenzieren und arbeitete für das Jüdische Filmfestival. Dabei reizte den Cineasten aus Leidenschaft, dass auch Filme aus Palästina ins Programm aufgenommen wurden. Seine vorerst letzte Metamorphose machte ihn nun zum Sozialwissenschafter.

Segal bezeichnet sich selbst als "pathologischen Vielschreiber", neben zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen verfasst er auch Artikel für französische Magazine.

Er ist auch ein "Vielläufer" und hat es in den letzten Jahren auf 19 Marathons in elf Ländern gebracht (seine beachtliche Bestzeit: 2:51,03). In der Mittagspause lässt er gerne mal die Jause sausen und läuft den Kahlenberg hinauf und wieder runter.

Schließlich ist er auch ein "Vielredner". Segal versteht sich als "Interventionist" und sucht bei Themen, die er für wichtig hält, auch die Öffentlichkeit.

Stichwort: EURO-Euphorie. Dass der Profi-Fußball die Integration etwa von Gastarbeiterkindern fördert, hält er für einen Mythos. Und die europäische Identität werde durch dieses immer wieder von Rassismus, Homophobie und Gewalt gekennzeichnete Spektakel sicher nicht gefördert.

Am 8. April wird Segal in der Volkshochschule Hernals über "Fußball, eine emotionale Seuche" vortragen (18-19.30 Uhr, Rötzergasse 15). (Oliver Hochadel/DER STANDARD, Printausgabe, 2.4.2008)