Die ungarische Regierungskoalition zwischen Sozialisten und Liberalen ist zerfallen, das Land steht vor der politischen Ungewissheit. Aber der Streit, der die Spaltung bewirkt hat und bis zum reformpolitischen Stillstand im Land führen könnte, war wichtig und unumgänglich.

Die Regierung ist an der Frage gescheitert, wie das Gesundheitssystem künftig aussehen soll. Dahinter verbirgt sich ein viel grundlegenderer Konflikt, der derzeit gesellschaftliche Richtungsstreitereien quer durch ganz Europa prägt: Welche Rolle soll der Staat in Kernfeldern, von der Gesundheitsversorgung über Bildung bis hin zur Pensionssicherung, spielen? Wie kann Verteilungsgerechtigkeit aussehen? Die Antworten aus Ungarn sind widersprüchlich.

Die ungarische Regierung hatte sich für ein Mischsystem zwischen staatlicher und privater Gesundheitsvorsorge entschieden. Die Krankenkassen hätten privatisiert werden sollen, aber nur zu 49 Prozent. Die Regierung wollte für Wettbewerb im Gesundheitswesen sorgen, aber nur zum Teil: Wie der Arzt den Patienten versorgen muss, hätte weiterhin das Gesetz vorgeschrieben.

Die Ungarn wollten diese Teilprivatisierung nicht. In einer Volksabstimmung Anfang März, in der es eigentlich um die Spitals- und Arztgebühren ging, sagten sie Nein.

Die Widersprüchlichkeit lässt sich am ungarischen Premier Ferenc Gyurcsány festmachen. In seiner berühmten "Lügenrede" hatte er davon gesprochen, dass die politische Elite des Landes die Menschen jahrelang belogen habe und Ungarn seit der Wende über seine Verhältnisse lebe. Im Ausland wurde er gefeiert. Im Inland haben ihm die Wähler für seine Sparpolitik trotzdem eine Ohrfeige verpasst.

Bemerkenswert waren auch die ideologischen Fronten bei der Debatte: Ausgerechnet die "linke" Regierung wollte die Kassen privatisieren, obwohl diese zuletzt wegen einer rigorosen Sparpolitik sogar Gewinn erwirtschaftet hatten. Und ausgerechnet die "rechte" Oppositionspartei Fidesz warnte auf lange Sicht vor einem Gesundheitssystem wie in den USA, obwohl davon natürlich nie die Rede war.

Der Fidesz setzte sich durch. Das hatte seine Gründe: Alle Ungarn mussten den Sparkurs der Regierung, mit dem die Neuverschuldung fast halbiert wurde, teuer bezahlen. Reiche (durch höhere Gewinnsteuer) und Ärmere (durch höhere Gaspreise, höhere Mehrwertsteuer) wurden zur Kasse gebeten. Nur schmerzen diese Maßnahmen die Armen stärker.

Wenn dabei im Ausland wegen der hohen Staatsschulden Ungarns vom "kranken Mann Europas" gesprochen wird, ist das nur halbwahr. Der ungarische Sozialstaat hat auch seine Leistungen erbracht. Ungleichheiten von der Dimension anderer osteuropäischer Staaten gibt es nicht. Viele sahen dies in Gefahr und haben die Sparpolitik gebremst. Börsen und Rating-Agenturen reagierten negativ, aber für die Menschen waren die sozialen Fragen wichtiger als die rein ökonomistische Betrachtung.

Insofern haben auch die Regierungsparteien richtig reagiert. Würden die Sozialisten die Privatisierung der Kassen durchziehen, wäre das politischer Selbstmord. Die Privatisierung war aber Kernforderung der Liberalen im Wahlkampf, also mussten sie jetzt, da die Sozialisten das Projekt abblasen, aus der Regierung raus. Derzeit deutet alles auf eine Minderheitsregierung hin. Auch wenn es dafür in Ungarn keinen Präzedenzfall gibt, könnte das Projekt erfolgreich sein. Denn Neuwahlen will derzeit niemand: Sozialisten und Liberalen würde eine vernichtende Niederlage drohen. Der Fidesz hat es nicht eilig. Er überlässt die Fortsetzung der Sparpolitik lieber den Sozialisten, die dabei im Parlament auf liberale Stimmen zählen können.

Ein Minderheitskabinett hätte auch Vorteile: "Linke" und "Rechte", die einander in Ungarn mehr hassen als sonst wo, könnten gezwungen sein, zumindest in einigen Sachfragen zusammenzuarbeiten. Und wenn die bisherigen Koalitionspartner ihre ideologischen Streitereien nun offen im Parlament austragen, kann das spannend werden. (DER STANDARD, Printausgabe, 3.4.2008)