Links: Die 68er hielten die miefige Nachkriegsstimmung für abbruchreif. Oswald Wiener (links) griff zum Hammer und übte ansonsten Wortgewalt. Unten: Katharina Noever als Model in der von Hans Hollein gestalteten Boutique CM.

Fotos: Christian Skrein
Das Jahr 1968 hat die 60er-Jahre gekapert. Das hat mit der Erinnerungsmechanik der Medien zu tun, die alle zehn Jahre ähnliche Fotos und Stichworte aus dem Depot holen: Paris und Prag, Rudi Dutschke und Jimi Hendrix, "Rebellion" und "Flower Power", Sex und Drogen – komprimiert in Schlagzeilen wie "Vor 40 Jahren veränderte eine Generation die Welt". Um dann festzustellen, dass in Österreich bloß ein "Mailüfterl" wehte und es anno 68 kaum punktuelle Ereignisse gab, die große Aufmerksamkeit erregten. Weniger die Politik war Kampfzone, den Bürgerschreck-Part übernahmen die Künstler.

Nimmt man "1968" als Chiffre und nicht als konkretes Jahr, so hat man es mit einer vielschichtigen Transformation zu tun, mit einer weit zurückreichenden Inkubationszeit und mit Tiefenströmen, die erst in den frühen 70er-Jahren wirksam wurden. Denn vieles, was zur Durchlüftung der Gesellschaft und zur Infragestellung von Werten, Autoritäten und Konventionen führte, trug sich im Persönlichen zu, im emotional-vorpolitischen Bereich – mit einem beispiellosen Wohlstandsschub als Voraussetzung.

1970 gab es in Österreich dreimal so viele Autos wie zehn Jahre vorher, und viermal so viele Fernsehapparate. Deshalb hier ein Versuch, nicht nur das 68er-Jahr, sondern die jugendbewegten und vom Fortschrittsglauben geprägten 60er-Jahre in einige Leitmotive und Widersprüche aufzudröseln.

Die schnellen 60er

The Who. The Kinks. The Action. The Move. Viele Beatbands aus London hatten schnelle kurze Namen. Pop, ein Wort mit unsichtbarem Rufzeichen, war ein Medium der Beschleunigung (auch der Konsumkultur) und des kreativen Überdrucks. Das Konstante war die Veränderung, das Jetzt zählte, die spontane Idee. "Ready Steady Go!" hieß die britische Hitparaden-Show, die zum internationalen Vorbild wurde. 19-Jährige konnten über Nacht berühmt werden. In der Normgesellschaft galt hingegen: hinten anstellen und warten, bis dich der Papa wo unterbringt.

Die entschleunigten 60er

Gegen Ende wurde alles langsamer, statt kantiger Zwei-Minuten-Singles LPs mit minutenlangen Gitarrensoli, die sich ins Unendliche hochschraubten. Hineindösen ins Meditative, bis hin zum Totalausstieg aus der Leistungsgesellschaft. Statt Einkaufen im Supermarkt dem selbst angebauten Gemüse beim Wachsen zuschauen

Die synästhetischen 60er

Im Radio spielte noch das "Kleine Rundfunkorchester", das für "leichte" Unterhaltung zuständig war. Beim Heurigen durften auch Verklemmte ausgelassen sein. Die Popkultur, ob die der Londoner Mods (eine Abkürzung für "modernists") oder die der kalifornischen Hippies, ignorierte die Rubrizierung der Emotionen und zielte auf alle Sinne, mit verzerrten Gitarren, optischen Effekten, intensivem Körpergefühl und halluzinativen Drogenerlebnissen, die 98 Prozent der Fans nur aus den Medien kannten. John Lennon deklarierte, dass Kunst und Leben, Traum und Realität ineinander fließen sollten.

Die Theorie-60er

Wer marxistische Lehrbücher und Entfremdungstheorien las, verachtete zumeist die tanzbaren Utopien aus der Jukebox. Wer Popmusik wichtig nahm, fand das neue Bewusstsein mittels ästhetischer Codes und konfessioneller Songtexte wie "Come On Through To The Other Side", "I’m Free To Do What I Want" oder "All You Need Is Love". Theorielastige Schachtelsätze fand man hingegen ziemlich öd. Es scheint zwei konträre Hitparaden zu geben: die der Kopf-68er (mit Texten von Marx, Adorno und Dutschke) und die Body-&-Mind-68er (mit Stones, Dylan und Doors als Stichwortbringern). Deshalb wurde Leonard Cohen so wichtig, als Vermittler zwischen den Milieus. Sein verführerisches Freedom-Gesäusel passte in die unaufgeräumte WG ebenso wie ins Schatzkästlein der sehnsüchtigen Gymasiastin.

Die optischen 60er

Der Künstler Gerwald Rockenschaub kreierte einmal das Wort "Augensex". Es passt auch für die aufregenden Visuals, die zwischen Beat und Psychedelia zirkulierten: Posters, LP-Covers und Modemagazine waren Bühnen für provokante Posen und grelle, flirrende Farbmischungen. Unkonventionelle Fotografen und Grafiker hatten die Macht, populäre Images in Umlauf zu bringen. Das ergab ein internationales Musterbuch, aus dem man sein Ich modellieren konnte. Minirock statt Omas Dirndl. Motto: Erfinde dich selbst!

Im Buch "Pop Design" wird als Epochengrenze das Auftauchen farbiger Wochenbeilagen in den frühen Sechzigern genannt, als Beispiel für die neue Bildermacht der Medien. Und dann gab es Bilder, die nie zuvor jemand gesehen hatte: zum Beispiel unser Blauer Planet aus Mondperspektive.

Die importierten 60er

Das Neueste kam aus "Swinging London", die Räucherstäbchen holten Indien ins Jugendzimmer, für die Neue Linke war Deutschland der Nabel revolutionärer Gesinnung. Randländer des Westens wie Österreich wurden zum Teil einer Lifestyle- und Subkultur-Internationale, im Musikhaus "3/4" oder im sagenhaften "Voom Voom" war man im inneren Exil, wenn auch ganz ohne Defensivgefühl. Nachholbedarf gab es überall, denn das Gewohnte implodierte. Wer sich auskannte, übernahm die neuen Codes. Wer nichts kapierte, für den galten Bob Dylans sarkastischen Zeilen: "Something is happening here / But you don’t know what it is / Do you Mr Jones?" Wahrscheinlich war die Traurigkeit darüber, dass die Eltern nicht verstanden, was in ihren Kindern vorging, größer als das Lustgefühl am Tabubruch.

Die technoiden 60er

Ein Knopfdruck in höchster Not – und schon wird James Bonds Aston Martin zur Universalwaffe. Alles schien machbar in den 60ern, die Hopser auf dem Mond waren keine wirkliche Überraschung, nachdem man Jane Fonda als High-Tech-"Barbarella" im Kino gesehen hatte. In Mode und Design wurde Plastik, ob fröhlich bunt oder durchsichtig, zu einem Symbol von Innovation. Der Modeschöpfer Courrèges montierte Metallblättchen auf PVC, "elektronisch" und "synthetisch" waren Wunderworte, bevor Naturmystik und Erdkult den ökologischen Turn einleiteten. Über gigantische Verstärkertürme wurden in Woodstock im darauffolgenden Jahr unter dem Motto "Love and Peace" sanftmütige Seelen beschallt.

ÖVP-Kanzler Josef Klaus bezeichnete die Kybernetik als seine Lieblingswissenschaft. Auch Oswald Wieners kryptisches Buch "Die Verbesserung von Mitteleuropa" bezog sich auf Kybernetik. Weiß noch irgend jemand, was das war?

Die sanften 60er

Das Grundrecht auf öffentliches Kuscheln wurde durchgesetzt, bevor in den 70ern harte Sounds zum "Kuschelrock" degenerierten. Bilder mit Weichzeichner glichen Zärtlichkeitsdefizite aus: Die gehauchte Stimme von Blumensänger Donovan, Richard Hamiltons gesoftete Mädchen, die nackten Körper bei Sexaufklärer Dr. Kolle.

Die schüchternen 60er

Die Popkultur bot eine universelle Sprache an (und steigerte nebenbei die Englisch-Kenntnisse!), einen Fernkurs in Empfindsamkeit. Nun konnten auch schüchterne Jugendliche, die für ihre Gefühlsnöte keine authentische Sprache hatten, ihr "Ich" ausdrücken. Die Rocklyrik lieferte bekenntnishafte Intimbotschaften, von John Lennon bis Joni Mitchell. "Wie dieser Klang ist, so bin ich, ganz!", so Peter Handke über seine Erweckung durch die Beatles. Pop war vorpolitisch, aber half dabei, sich von erstarrten Konventionen abzugrenzen und sich als Subjekt zu empfinden.

Die jugendlichen 60er

Der junge Strahlemann John F. Kennedy wurde zum Weltbotschafter von Frische und Optimismus, zur Gegenthese zum faden Grau der Politfunktionäre. Übrigens: Alois Mock war 33, als er 1966 Unterrichtsminister wurde, Hannes Androsch war 32, als ihm Kreisky 1970 die Verantwortung für die Staatsfinanzen übergab. 1965, als die Stones in der Stadthalle dröhnten, wurde ihre Musik noch Lärm genannt, und die Medien erregten sich über ihre ungewaschenen Haare. Wenig später wurde es obligat, in den Zeitungen "Jugendseiten" einzurichten; in den Kaufhäusern gab es "junge Mode". Mit dem "jungen" Sender Ö3 erreichte die "Pop-Revolution" den breiten Alltag. Aber man brauchte 19-jährige Fans wie mich, um den Hörern die neue Weltlage zu erläutern.

Die reformerischen 60er

Eingefrorene Zustände auftauen, das Miefige durchlüften, "Demokratie wagen" – in allen Bereichen. Ein Kulminationspunkt war das Rundfunk-Volksbegehren. Es waren hemdsärmelige Konservative, die Frischluft in den biederen Staatsfunk bliesen. Internationalität versus Heimatschlager. Auch in der Kirche und in den Parteien gerieten die Apparatschiks unter Druck. Es waren mutige ÖVPler, die der Protest-, Zorn- und Schockkultur erste öffentliche Podien boten, den Steirischen Herbst oder die Innsbrucker Jugendkulturwoche von 1968. Legendär ist der Ausspruch des Kulturlandesrats: "Ischt der Nono wirklich a Kommunischt?" Kommen durfte er trotzdem. Mit tirolerischen Steuergeldern konnten die renitenten Avantgardisten die Sau rauslassen – und, unerhört, via Ö3-Musicbox gelangten ihre kryptischen Texte ans breite, ratlose Volk, garniert mit Zappa und Hendrix. Ein Betriebsrat aus dem SGP-Werk rief nach einer Jandl-Spezialbox an und empörte sich über diese Störung des Arbeitsfriedens.

Die Virtuosität der Gegentexte ließ die Phrasen der Funktionäre noch grauer und hilfloser erscheinen. Die SPÖ war damals ein Hort der Biederkeit, Brot & Butter statt Spintisiererei. In der Ö3-Jugendredaktion waren übrigens keineswegs "Linke" am Ruder (auch wenn es Gerd Bacher Spaß machte, uns so zu nennen), sondern brave Weltverbesserer mit katholischem Hintergrund. Der "linke" Katholizismus war, das wird oft vergessen, einer der wichtigsten systemkritischen Treibsätze.

Die Mitgefühls-60er

Ob inspiriert von Johannes XXIII., Martin Luther King oder Frantz Fanon – die Hinwendung zum Schicksal der Unterdrückten erreichte viele Herzen. Für die einen erklang dazu die glockenhelle Stimme von Joan Baez, andere nahmen Gewalt in Kauf. Das Ziel der Solidarität lag zumeist in der Ferne, in den segregierten Südstaaten, in Vietnam oder in der Dritten Welt. Die Bilder von den hungernden Kindern in Biafra wurden zu Signalen einer zunehmend globalisierten Welt. (Wolfgang Kos, ALBUM/DER STANDARD, 05/06.04.2008)