Der Vertrag von Lissabon ist nicht unumstritten, dementsprechend massiv sind die Proteste dagegen. Bei kaum einem Thema wird jedoch so viel polemisiert und so wenig sachlich kritisiert wie bei der EU-Reform. Linke Gruppierungen bemühen sich zwar, die Debatte auf ein höheres Niveau zu heben, der Boulevard setzt jedoch lieber auf altbewährte Schlagworte. Der Lissabonner Vertrag muss für vieles herhalten, was "die EU" und "die in Brüssel" eigentlich schon längst umgesetzt haben. Die angeblichen "Sieben Todsünden des EU-Vertrags" prägen die Berichterstattung der Kronenzeitung - und das eine oder andere Vorurteil schleicht sich auch ungeprüft in die Berichterstattung von Qualitätsmedien ein.

 

Wir baten zwei EU-Experten, für uns zu analysieren: Was ist wahr? Was ist reine Panikmache? Und: Was stimmt, hat aber eigentlich gar nichts mit dem EU-Vertrag zu tun? Die Politikwissenschafter und EU-Experten Otmar Höll und Josef Melchior analysierten für derStandard.at. Zusammengefasst sind sie sich einig: "Man nimmt den Lissabonner Vertrag nur zum Anlass, um längst bestehende und grundlegende Pfeiler der Europäischen Integration in Frage zu stellen".

Der Artikel der Kronenzeitung, der uns als Beispiel dient:

"Die Sieben Todsünden:

1) Wir verpflichten uns zum Kampfeinsatz an der EU-Front! Eine stille Abschaffung der Neutralität.
2) Renaissance der Atomenergie! Mit EURATOM wird die Hintertür für Milliarden-Förderungen an die Kernkraft-Lobby geöffnet.
3) Gentechnik im Essen kommt in den Verfassungsrang! Es gibt kein Vetorecht.
4) Der EU-Vertrag kippt das Recht auf Mindestlohn!
5) Durch das Herkunftslandprinzip (Produkte unterliegen teils weniger strengen nationalen Gesetzen, können aber überall in der EU verkauft werden) droht uns eine Transitlawine!
6) Trotz Verdoppelung unseres Beitrages bastelt Brüssel an neuen Steuern!
7) Und das Wichtigste: Das EU-Recht hat Vorrang vor österreichischen Gesetzen!"

 

 

"Wir verpflichten uns zum Kampfeinsatz an der EU-Front! Eine stille Abschaffung der Neutralität."

Tatsächlich enthält der Vertrag von Lissabon (VvL) eine "Solidaritätsklausel". Der zukünftige Artikel 222 des VvL sieht vor, dass die Mitgliedsstaaten "im Geiste der Solidarität" den anderen Staaten im Falle eines Terroranschlags, einer Naturkatastrophe oder einer von Menschen verursachten Katastrophe Unterstützung leisten. Allerdings sieht Erklärung Nr. 37 zum Vertrag vor, dass jeder Mitgliedsstaat das Recht hat, die "am besten geeigneten Mittel zur Erfüllung seiner Verpflichtung zur Solidarität" zu wählen.

Im Klartext bedeutet das: Österreich muss zwar solidarisch helfen, aber nicht notwendigerweise bei Kampfhandlungen. "Niemand kann Österreich zwingen, an Kampfeinsätzen teilzunehmen", erklärt Josef Melchior. Österreich könne die Unterstützungsmaßnahmen wählen, "die mit dem Status eines neutralen Landes vereinbar sind". "An der Neutralität ändert sich gar nichts", betont auch Otmar Höll. Jeder Staat habe durch die beigefügte Erklärung sogar ausdrücklich das Recht, Nein zu sagen. Dass die Neutralität sich gewandelt hat, sei unübersehbar, so Melchior - sie sei schon lange auf ihren Kern, die Nichtteilnahme an Kriegen, reduziert. Das ist allerdings mit dem Beitritt zur EU und nicht erst mit dem Lissaboner Vertrag passiert.

 

 

"Renaissance der Atomenergie! Mit EURATOM wird die Hintertür für Milliarden-Förderungen an die Kernkraft-Lobby geöffnet."

Seit 1957 besteht EURATOM, und zwar - im Gegensatz zu den Gründungsverträgten der EU - inhaltlich in weiten Teilen unverändert. Der Vertrag ist unbefrist abgeschlossen, und daran ändert auch der Vertrag von Lissabon nichts. In einem Protokoll zum neuen EU-Vertrag heißt es, dass "die Bestimmungen des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft weiterhin volle rechtliche Wirkung entfalten müssen."

"Österreich wird weiterhin selbst entscheiden können, ob es Atomkraftwerke bauen will oder nicht", so Melchior. Man habe auch erstmals die Möglichkeit, im Rahmen der gemeinsamen Forschungspolitik zumindest die Ziele der EU in der Energiepolitik mitzubeeinflussen - wenn man auch keine Macht über die anderen Mitgliedsstaaten habe. "Dass die Atomenergie eine Rennaissance erlebt, hat die Atomlobby erreicht - mit dem Vertrag von Lissabon hat das nichts zu tun", präzisiert Höll. Im Rahmen des VvL seinen zumindest mehr Geldmittel für alternative Energien vorgesehen.

 

 

"Gentechnik im Essen kommt in den Verfassungsrang! Es gibt kein Vetorecht."

Der Lissaboner Vertrag enthält keine Regelungen zur Gentechnik. Die Aussaat von gentechnisch verändertem Saatgut sowie der Handel mit Lebens- und Futtermitteln, die gentechnisch verändert wurden, sind bereits seit Jahren geregelt - in der Freisetzungsrichtline 2001 und der Verordnung über gentechnisch veränderte Lebensmittel von 2004.

"Natürlich impliziert der Übergang zum Prinzip der qualifizierten Mehrheit für Entscheidungen in vielen Bereichen den Verzicht auf das nationale Veto im Interesse eines fairen und effizienten Interessensausgleich zwischen den Mitgliedsstaaten", so Melchior. Mit Gentechnik im Verfassungsrang habe das allerdings nichts zu tun. Immerhin gebe es jetzt wenigstens "eine Kennzeichnungsplicht für gentechnisch veränderte Lebensmittel", erklärt Höll.

 

 

"Der EU-Vertrag kippt das Recht auf Mindestlohn!"

Auch hier gilt: Im VvL gibt es keine Regelungen zum Mindestlohn. Tatsächlich ist das Thema Mindestlohn in letzter Zeit aber vermehrt in den Medien präsent, nicht zuletzt wegen einer Beschwerde des niederländische Postkonzerns TNT über die Einführung eines Postmindestlohns in Deutschland.

"Es bleibt weiterhin im nationalen Bereich, Mindestlohnregelungen einzuführen oder nicht", erklärt Melchior. Inwieweit solche Regelungen als Instrument des Ausschlusses von Mitbewerbern missbraucht werden, sei "eine gänzlich andere Frage". Ähnlich sieht es auch Höll: Der VvL sehe keinerlei Vereinheitlichung vor; was die Rechte der Sozialpartner angehe, gebe es vielmehr eine Stärkung - "ein Schritt in die richtige Richtung".

 

 

"Durch das Herkunftslandprinzip (Produkte unterliegen teils weniger strengen nationalen Gesetzen, können aber überall in der EU verkauft werden) droht uns eine Transitlawine!"

Dass das Transitthema problematisch sein würde, war bereits beim Beitritt Österreichs zur EU klar. In der Erklärung Nr. 34 zum Beitrittsvertrag Österreichs zur EU wurde die Union aufgefordert, Umweltprobleme, die durch den Lastkraftwagenverkehr entstehen, zu lösen. Dies geschah zum Teil in der Wegekostenrichtlinie, die die Gebührenerhebung für die Benutzung von Straßen durch Nutzfahrzeuge regelt. Das Herkunftslandprinzip selber gilt schon seit 1987 und ist einer der Grundpfeiler der europäischen Integration.

"Natürlich bin ich wie viele andere auch gegen übermäßigen Transitverkehr, aber dass dafür alleine die EU verantwortlich gemacht wird, entbehrt jeglicher Grundlage", so Höll. Selbst wenn wir nicht Mitglied der Europäischen Union wären, könnten wir "dem Transitverkehr nicht entkommen", betont Höll. "Das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung von Produktstandards ist die Grundlage des Binnenmarktprogramms seit 1987 und wird durch den Lissabonner Vertrag nicht tangiert", erklärt Melchior.

 

 

"Trotz Verdoppelung unseres Beitrages bastelt Brüssel an neuen Steuern!"

Immer wieder heiß umstritten: Die Verteilung der finanziellen Beiträge an die und von der Union. Österreich ist, wie etwa auch die BENELUX-Staaten, Frankreich oder Deutschland, Nettozahler - zahlt also mehr in den EU-Haushalt ein, als es wieder zurückerhält. Die Zahlungen berechnen sich aus einem prozentuell bestimmten Prozentsatz einer einheitlichen Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer, im Falle Österreichs 0,225 Prozent. Die Beiträge werden immer wieder neu festgelegt, zum letzten Mal in der finanziellen Vorschau für die Jahre 2007 bis 2013. Darin ist allerdings von einer Verdopplung nicht die Rede.

"Die Netto-Zahler inklusive Österreichs erhielten darin sogar gewisse Abschläge", erklärt Melchior. Ab 2008 sei aber vorgesehen, über ein neues Finanzierungssystem der Union auf Steuerbasis zu diskutieren. "Das würde auch die finanzielle Autonomie der Region erhöhen und eine direktere Beziehung zwischen der EU und den BürgerInnen herstellen", so Melchior. "Österreich hat von allen EU-Ländern am meisten vom Beitritt profitiert", meint Höll. Von einer Verdopplung der Beiträge könne außerdem keine Rede sein.

 

 

"Und das Wichtigste: Das EU-Recht hat Vorrang vor österreichischen Gesetzen!"

Der Vorrang des Gemeinschaftsrecht vor nationalem Recht ist eine der wichtigsten Grundlagen europäischer Integration. Der EuGH entwickelte das Prinzip in seiner ständigen Rechtssprechung in den 60er Jahren. Er erklärte einerseits, dass Behörden der Mitgliedstaaten keine gemeinschaftsrechtswidrigen nationalen Vorschriften anwenden dürfen, andererseits, dass nationales Recht entsprechend der EU-Vorgaben angepasst werden muss.

"Das Prinzip des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts ist ein Grundpfeiler der Europäischen Integration. An der Substanz dieses Prinzips ändert der Lissabonner Vertrag nichts", so Melchior. "Kurz gesagt: Ja, das EU-Recht hat Vorrang", erklärt Höll. "Und zwar seit wir Mitglied sind - Mehr kann man nicht dazu sagen." (Anita Zielina, derStandard.at, 8.4.2008)