Christoph Keese.

Foto: Die Welt
"Online First" heißt es seit einem Jahr für "Die Welt": Noch bevor ein Artikel bei der Belichtung ist, erscheint er im Internet. Konzerngeschäftsführer Christoph Keese erklärte Doris Priesching, warum das keine Konkurrenz im eigenen Haus ist.

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STANDARD: Anfang 2007 erregte "Die Welt" mit "Online First" Aufsehen. Wie fällt die Bilanz aus?

Keese: Die Zahlen der Page-Impressions haben sich rapide nach oben entwickelt. Im März haben wir es an die Spitze des Verfolgerfeldes von spiegel.de geschafft, stern.de überholt.

STANDARD: Mit "Online First" verbunden war eine groß angelegte Umstrukturierung. Was ist da passiert?

Keese: Wir haben Online- und Print-Redaktion zusammengelegt. Die beiden machen "Welt", "Welt kompakt", "Welt am Sonntag" und "Morgenpost". Jeder Artikel ist auf der Website zu lesen, noch bevor er in der Zeitung belichtet wird. Wir mussten die Abläufe so umstellen, dass wir morgens, mittags und am frühen Nachmittag Material in großer Zahl zur Verfügung haben.

STANDARD: Besondere Bedeutung hat der "Newsroom", der Kommunikationszentrale von Medien. Wie verfährt da "Die Welt"?

Keese: Nehmen wir ein Beispiel: Die Siemens-Hauptversammlung beginnt um neun Uhr und ist um 12 Uhr fertig, den Text könnte der Redakteur schon zwischen 13 und 14 Uhr fertig haben, so dass man den Text für Print nur mehr aktualisieren muss. Solche Anweisungen machen viele Einzelentscheidungen nötig. Dafür braucht man eine Kommandobrücke, wo man sich auf Zurufe verständigen kann. Im Newsroom sitzen knapp 60 Kollegen, bei insgesamt 400 Mitarbeitern. Die Entscheider sitzen dort.

STANDARD: Manche meinen, die Zeitung könne nur überleben, wenn es die Hintergrundberichterstattung vertieft, weil punkto Schnelligkeit Internet unschlagbar sei. Wie hat sich das in der "Welt" entwickelt?

Keese: Wir können das überhaupt nicht bestätigen. Unsere Printauflagen haben in keinster Weise gelitten. Die beiden Märkte berühren sich viel weniger als man denkt. Nachrichten sind für Zeitungen sehr wichtig. Ein Artikel kann am Nachmittag online sein und am nächsten Morgen unverändert in der Printausgabe. Nicht ein Leser hat sich darüber je beschwert.

STANDARD: Warum soll ich "Die Welt" kaufen, wenn ich sie im Internet gratis bekomme?

Keese: Die Argumente liegen auf der Hand: Die Zeitung verleiht ein Abgeschlossenheitserlebnis. Nach 32 Seiten ist es zu Ende, Sie wissen, Sie haben den Überblick. Dazu kommt das haptische Erlebnis. Längere Texte lesen sich drittens besser auf Papier. Nicht zu unterschätzen ist auch der "lean backward"- und "lean forward"-Modus. Menschen lehnen sich nach vorne, wenn sie aktiv sein wollen, interaktiv sein wollen. Sie lehnen sich zurück, wenn sie sich informieren, inspirieren, aufladen lassen wollen. Das sind 15 Grad Unterschied in der Haltung des Oberkörpers, macht aber von der Rezeptionshaltung allen Unterschied der Welt aus. Internet ist ein "forward"-Medium, Zeitung "backward".

STANDARD: Experten sorgen sich um die Boulevardisierung des Internet. Welche Themen haben in der "Welt" die höchsten Zugriffe?

Keese: Der zynische Journalistenspruch "Ein Toter vor der Haustür ist mehr wert als einer in Südamerika" stimmt nicht. Menschen klicken Geschichten aus fernen Regionen genauso stark. Dass die Menschen sich angeblich stärker für Innenpolitik als für Außenpolitik interessieren, stimmt genauso wenig. Das stärkste politische Thema ist der Vorwahlkampf in den USA, schlägt alle Themen in Deutschland um Längen. Das dritte Vorurteil, das die Personalisierung aller Themen verlangt, stimmt auch nicht. Wenn eine Geschichte abstrakt, aber interessant ist, wird sie gelesen. Das Internet sei reines Nachrichtenmedium, ist auch falsch. Es geht um den Mehrwert: Analysen, Hintergründe, Meinungen und Kommentare machen den Erfolg aus.

STANDARD: "Sex" im Titel treibt aber doch auch in der "Welt" die Zugriffszahlen rasant in die Höhe?

Keese: Natürlich laufen vermischte oder Boulevardthemen gut. Maddie läuft gut, auch Britney Spears.

STANDARD: Wo gibt's noch was zu tun?

Keese: Bei der Rechtschreibung. Ein großes Problem, weil wir kein eingebautes Korrekturprogramm haben. Wir müssen stärker werden bei bewegten Grafiken und Video. (Doris Priesching/DER STANDARD; Printausgabe, 16.4.2008)