Bild nicht mehr verfügbar.

Über die Folgen des Großexperiments am Cern sind schon wilde Spekulationen im Umlauf. Auch vom schwarzen Loch ist die Rede.

Foto: AP/KEYSTONE/Martial Trezzini
Die Wissenschaft kapiert lediglich vier Prozent des Wesens des Universums. Physiker am europäischen Kernforschungszentrum Cern im schweizerischen Genf suchen daher den Schlüssel zu mehr Verständnis. Mit dem größten Teilchenbeschleuniger der Welt soll nach jenem Teilchen gefahndet werden, das alles erklären kann - oder auch nicht.

*****

Optimisten erhoffen sich Erkenntnis, Pessimisten befürchten ein schwarzes Loch, das sich unter Genf auftut, das wer weiß was verschluckt und in diversen Internetforen schon die Pferde der apokalyptischen Reiter sattelt. Logisch, denn so nah kam Sciencefiction noch nie an Realität: Im europäischen Kernforschungszentrum Cern soll der Large Hardron Collider (LHC), mit 27 km der weltweit größte Teilchenbeschleuniger, demnächst seine zerstörerische Arbeit aufnehmen.

Dann knallen unsichtbar kleine Materieteilchen in der vier Milliarden Euro teuren Röhre im schweizerisch-französischen Grenzboden fast mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander, zerbersten in noch winzigere Teilchen - in solche, die kurz nach dem Urknall existiert haben, Grundbausteine aller Materie sein sollen, erklärt Cern-Physiker Rolf Landua.

Dann wird der Beschleuniger eine Zeitmaschine, die es erlaubt, bis auf den Bruchteil einer Mikrosekunde an den Ursprung des Universums heranzufahren, an die Geburt von Materie, Raum und Zeit. "Wir kommen bis auf etwa zehn hoch minus zwölf Sekunden an den Big Bang heran", freut sich Landua auf die Rückführung, bei der in der Röhre ein kosmologischer Embryo in jenem Entwicklungsstadium schweben soll, "in dem wir hoffentlich Higgs-Teilchen finden."

Was nach einem Scherz der Wissenschaft klingt, soll, dem eingehauchten Lebensodem gleich, alle bekannte Materie zu Materie machen. Denn laut Theorie soll jedes Teilchen erst durch Wechselwirkung mit einem Higgs-Feld Masse bekommen: "Das Rezept für Materieproduktion muss irgendwie und irgendwo im Raum-Zeit-Gefüge sein", sagt Landua. "Das Higgs-Boson ist wie kosmische DNA, die das Erzeugungsrezept von Teilchen beinhaltet."

Eine logische Kausalkette

Theoretisch entstand alles entlang einer logischen Kausalkette: Vor 13,7 Milliarden Jahren befand sich das Universum in der Singularität, ähnlich einem schwarzen Loch, in der Raum und Zeit unendlich gekrümmt waren. Hier räumt die Wissenschaft erstmals ein, dies sei reine Spekulation. Zu ihrer Ehrenrettung jedoch postuliert sie, dass physikalische Gesetze damals ohnedies nicht gegolten hätten. Also erfolgte aus ungeklärter Ursache die Initialzündung, Big Bang, krach, bum. Weitere zehn hoch minus 43 Sekunden lang tat sich weiß Gott was, aber auch in dieser "Planck-Ära" hätte es noch keine Physik gegeben, entschuldigt sich die Wissenschaft ein zweites Mal. Doch ein paar Sekundenbruchteile später habe sich gigantischer Raum aufgeblasen, habe es Zeit, Teilchen und endlich auch Physik gegeben.

Für Landua gibt heutiges Wissen hier weniger her als Glaube: Wissenschaftlich besteht das Universum zu vier Prozent aus bekannten Teilchen. Zu 23 Prozent besteht es aus dunkler Materie und zu 73 Prozent aus dunkler Energie. "Dunkel" lässt vermuten, dass Physiker nicht den blassesten Schimmer haben, worüber sie da eigentlich reden. "Stimmt", gibt Landua zu und konkretisiert: "Wir wissen, dass wir 96 Prozent des Universums nicht verstehen."

Da viele Galaxien schneller rotieren, als es ihre Massen und unsere Naturgesetze erlauben, und uns dennoch nicht um die Ohren fliegen, muss die Sternenhaufen wohl eine zusätzliche Schwerkraft zusammenhalten. Und da für uns nur Masse für Gravitation sorgt, muss Masse da sein. Eine dunkle halt, weil nix Genaues weiß man. Und dunkle Energie? Die muss einfach überall im Universum vorhanden sein, sonst könnte dieses sich nicht seit fünf Milliarden Jahren mit wachsender Geschwindigkeit ausbreiten. Auch muss dunkle Energie dunkler Materie unter die Arme greifen. Denn Berechnungen der Gravitation zwischen Galaxien ergeben, dass dunkle Materie maximal 25 Prozent der erforderlichen Materie sein kann. Die Gravitation muss sich die fehlende Masse mit Einsteins Formel zum Masseäquivalent (E=mc2) von der dunklen Energie leihen. Sonst können wir uns unser physikalisches Weltbild auf den Bauch pinseln.

Die Wissenschaft muss noch immer all ihre Naturgesetze, Postulate und Konstanten vorn in ihr Modell stecken, damit hinten das Universum herauskommt, das wir beobachten. Bei so viel Tapsen im Dunkel bekommt jeder Physiker Schluckauf - Higgs, das prophezeite "Gottesteilchen", wie Physik-Nobelpreisträger Leon Ledermann das Ding nennt, ist notwendiger Schlussstein im theoretischen Teilchengebäude der Physik. Daher macht der Genfer LHC Jagd darauf - und soll dabei noch dunkle Materie und dunkle Energie erhellen. (Andreas Feiertag, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16. April 2008)