"Was ist faul im Staate Österreich?" – ein englischsprachiger Journalist warf das wohlfeile Hamlet-Zitat, zur rhetorischen Frage umformuliert, bei der Pressekonferenz vom Montagnachmittag in Amstetten in die Runde. Das monströse Verbrechen in der niederösterreichischen Kleinstadt hat weltweit Schlagzeilen gemacht. Noch bevor ich allerdings Gelegenheit fand, mir die Kommentare des Auslands vor Augen zu führen, kamen schon die Anrufe von Journalistenkollegen aus Österreich selbst. Und da wurde immer die eine, bange Frage gestellt: Wie stehen wir jetzt da? Wie denken insbesondere die Nachbarn im Westen, die Partner der unmittelbar bevorstehenden EURO 08, über uns?

Kein Land der Welt kann von sich behaupten, dass es immun sei gegen Verbrechen der schwersten Art. Amokschützen in den USA, Kinderschänder in Belgien, Massenmörder, die Leichen im Vorgarten englischer Reihenhäuser verscharren – die Fälle sind bekannt. Theorien, denen zufolge die Ursachen der Verbrechen an Elisabeth F. und ihren Kindern oder an Natascha Kampusch in der „österreichischen Seele“ zu finden wären, sind abenteuerlich.

Ist etwas faul im Staate Österreich? Die Antwort darauf ist nicht beim Verbrechen selbst und kaum im Profil des Täters zu suchen. Typisch österreichisch an der Sache ist das Umfeld: Angehörige, Nachbarn, Passanten. Die Frage, die sich in diesem Fall als erste stellt: Hat jemand etwas bemerkt? Oder, andersherum: Wieso hat niemand etwas bemerkt? Oder, präziser: Will niemand etwas bemerkt haben? Falls aber doch jemand etwas bemerkt haben sollte: Wieso hat niemand reagiert? Die außergewöhnliche Dauer dieses Verbrechens, die aufwändige Logistik und Infrastruktur lassen es fraglich erscheinen, dass wirklich niemandem etwas aufgefallen ist, wie behauptet wird.

Amstetten war – auch – Standort zweier Nebenlager des KZ Mauthausen. In der Nachkriegszeit will hier kaum jemand etwas gesehen oder gewusst haben von den NS-Verbrechen, die sich nicht nur in entlegenen Konzentrationslagern „im Osten“, sondern auch buchstäblich vor der eigenen Haustür abgespielt haben. Heinrich Gross, mutmaßlicher Massenmörder und Folterer von hunderten von Kindern, lebte in Ehren und starb Ende 2005 in Frieden. Die frühere KZ-Aufseherin Erna Wallisch lebte bis zu ihrem Tod Mitte Februar unbehelligt in Wien. Nicht anders als Josef F. waren NS-Mörder und Henkersknechte, die von der österreichischen Justiz begnadigt oder gar nicht erst vor Gericht gestellt wurden, unauffällige, freundliche Nachbarn. Die Bewohner der südburgenländischen Gemeinde Rechnitz, wo in den letzten Kriegstagen 180 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter massakriert wurden, verschanzten sich hinter einer Mauer des Schweigens: Keiner wollte etwas gesehen, gehört oder gar getan haben. Vergleichbares gilt für hunderte weitere Ortschaften in Österreich: nix gesehen, nix gehört, nix geredet.

Mangel an Zivilcourage

Was die Nachbarn der Familie F. nun tatsächlich gehört oder gesehen haben, wird letztlich selbst durch erfahrene Polizeipsychologen kaum zu ermitteln sein: Wenn diese braven Leute etwas von jenen Untaten mitbekommen haben, so haben sie dies möglicherweise ausgeblendet. Leugnung der Realität als Selbstschutz. Man will sich nicht die Finger verbrennen, will keinen Unfrieden, will Unannehmlichkeiten vermeiden. Zivilcourage ist, so scheint es mir, hierzulande selten.

Ebenso wenig wie die Zivilcourage ist in Österreich auch die Zivilgesellschaft entwickelt. Dafür gibt es hier keine Tradition. Macht und Verantwortung werden an die Behörden delegiert, und vor einer Obrigkeit, die sich gern entsprechend geriert, wird gebuckelt. Wenn „die Behörden“, wie im Fall der Familie F. umgehend behauptet wurde, alles richtig gemacht und nichts unterlassen haben, so wird dies von der Mehrheit nicht hinterfragt und widerspruchslos hingenommen.

Die österreichischen Medien – abgesehen von den Qualitätszeitungen für eine gebildete Minderheit – sehen ihre Aufgabe weniger darin, Staatsbürger zum kritischen Mitdenken zu führen und entsprechende Grundlagen zu liefern. Angesagt ist Hofberichterstattung – und möglichst grell präsentierte Unterhaltung. Viel wichtiger, als die richtigen Fragen zu stellen, war zumindest den Boulevardzeitungen, ihrer Leserschaft umgehend Fotos von allen Beteiligten und ihre jeweilige Version von akribisch gezeichnete Grundrissen des Kellerverlieses zu liefern. Sichtlich überwiegt die Lust am Gräuel – unter dem Deckmantel der „Information“. Die Lust an der Inszenierung, am Visuellen – unter Vernachlässigung des Intellektuellen: Das könnte ursächlich etwas mit der Praxis des Katholizismus in Österreich zu tun haben.

So bietet sich dem ausländischen Betrachter in Österreich ein nur scheinbar widersprüchliches Szenario des sensationslüsternen Hinschauens und des tabuisierenden Wegschauens. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.4.2008)